Neueste Artikel

Die Mutter aller Wahlen in Belgien

flanderninfoDie Belgier sprechen dieses Jahr von der „Mutter aller Wahlen“. Denn am Sonntag wählen sie bei bloß einem Urnengang gleichzeitig die Regionalparlamente Flanderns, Walloniens und Brüssels sowie der deutschsprachigen Gemeinschaft, die belgische Abgeordnetenkammer und das Europaparlament. flanderninfo.be veröffentlichte die Erfahrungen von EU-Ausländern, die im politisch etwas komplizierter gestrickten Belgien leben. Ihre Statements erschienen zwei Wochen lang täglich in einer interaktiven Grafik.

Auf der deutschsprachigen Website flanderninfo.be startete die Redakteurin Uta Neumann vier Wochen vor den Wahlen einen Aufruf an EU-Ausländer in Belgien. Mit der Bitte, sechs Fragen zu beantworten und sie per Mail an die Redaktion zu schicken.

„Darauf meldete sich leider kaum jemand. Erst als ich Mails direkt an Expats und Deutsche in Belgien schickte, antworteten dann doch noch einige“, erzählt Neumann.

Ein Expatriate kurz Expat (aus dem Lateinischen: ex aus, heraus und patria Vaterland), heißt eine Fachkraft, die ihr international tätiger Arbeitgeber vorübergehend an eine ausländische Zweigstelle des Unternehmens entsendet.

Eine Auswahl der Antworten veröffentlichte die Redaktion täglich in einer interaktiven Grafik im Dossier Wahlen Mai 2014. Jeweils mit Vollnamen oder auf Wunsch mit Kürzel oder anonym. Zudem war die Angabe von Staatsangehörigkeit, Alter und bisherige Dauer des Belgienaufenthalts freiwillig.

drehscheibe-Tipp

Weitere Geschichten über EU-Ausländer in der Region:

Die Fragen

  1. Warum gehen Sie zur Europawahl 2014?/Warum gehen Sie nicht wählen?
  2. In welchem Land (Heimatland oder Belgien) wählen Sie? Warum?
  3. Warum wünschen Sie sich mehr oder weniger Europa?
  4. Was sind Ihre Erfahrungen mit den Europawahlen? Wie schwierig war die Anmeldung zur Europawahl?
  5. Wer, denken Sie, wird aus den Wahlen als Sieger hervorgehen?
  6. Wie viel bekommen Sie von den belgischen Listen für die Europawahlen mit?

Auswahl eingesendeter Antworten:

Mittwoch, 7 Mai:
1 ) Was sind Ihre Erfahrungen mit den Europawahlen? Wie schwierig war die Anmeldung zur Europawahl?
Die Anmeldung ist nicht schwierig – nicht schwieriger als für andere Wahlen. Die Botschaft informiert Auslandsdeutsche sehr gut über die Prozeduren. (S.Z., 34 Jahre aus Deutschland, lebt in Belgien)
2) Wer, denken Sie, wird aus den Wahlen als Sieger hervorgehen?
Persönlich glaube ich, dass wieder die Konservativen die stärkste Fraktion werden. (S.Z., 34 Jahre aus Deutschland, lebt in Belgien)
3) Wie viel bekommen Sie von den belgischen Listen für die Europawahlen mit?
In Belgien stehen die nationalen und regionalen Wahlen im Vordergrund. (S.Z., 34 Jahre aus Deutschland, lebt in Belgien)

Video-Tipp

Einen kurzen Einblick in das komplexe politische System Belgiens mit seinen bemerkenswerten Eigenheiten gibt dieses unterhaltsame Video (in Englisch):

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Donnerstag, 15. Mai:
1) In welchem Land (Heimatland oder Belgien) wählen Sie? Warum?
Ich lebe und arbeite in Brüssel (ursprünglich aus Deutschland), weil hier Europäische Gesetzgebung auf den Weg gebracht wird. Es handelt sich zudem um eine Internationale Stadt, wo man Einblicke in verschiedene Kulturen gewinnen kann und so einen anderen Blick auf Europa als Ganzes bekommt. 28 Nationalitäten – Zusammen sind wir Europa – Alle ein wenig anders, aber doch vereint. Das hautnah zu erleben, ist die Reise schon wert! (T.H., 27 Jahre, aus Deutschland)
2) Warum wünschen Sie sich mehr oder weniger Europa?
Ich stehe ein für die Idee Europas – dass sich 28 Länder vereinen und zusammen ein Ganzes bilden. Dank Europa haben wir vieles erreicht. Jeder kann verreisen wohin er auch will, wir müssen kein Geld wechseln aufgrund der gemeinsamen Währung, es gibt keine Kriege und und und… Die Liste ist lang. Fakt ist: Europa bringt uns mehr Vorteile als Nachteile. (T.H., 27 Jahre, aus Deutschland)
3) Wie schwierig war die Anmeldung zur Europawahl?
Die Anmeldung zur Europawahl war kinderleicht und unproblematisch (Deutsche, seit 23 Jahren in Belgien.)
Freitag, 16. Mai:
1) Warum gehen Sie zur Europawahl 2014?/Warum gehen Sie nicht wählen?
Nicht weil es Wahlpflicht ist, sondern um der Sache willen. (RE.BE. aus Deutschland, lebt in Belgien)
2) In welchem Land (Heimatland oder Belgien) wählen Sie? Warum?
In Belgien, weil wir hier leben. (RE.BE. aus Deutschland, lebt in Belgien)
3) Warum wünschen Sie sich mehr oder weniger Europa?
Ich wünsche mir mehr Europa, weil die Europa-Idee von vor 50 Jahren unterzugehen droht. (RE.BE. aus Deutschland, lebt in Belgien)

Montag: 19.05.14
1) Was sind Ihre Erfahrungen mit den Europawahlen? Wie schwierig war die Anmeldung zur Europawahl?
Bürokratisch zu umständlich, daher habe ich mich entschlossen meine Skepsis gegenüber der jetzigen Gestalt der EU und ihre ungenügende demokratische Legitimierung durch Nichtwahl auszudrücken. (Aus Deutschland, 52 Jahre)
2) Wer, denken Sie, wird aus den Wahlen als Sieger hervorgehen?
Den Sieger kann ich nicht einschätzen, aber die eurokritischen Stimmen werden stärker. (Aus Deutschland 52 Jahre)
3) Wie viel bekommen Sie von den belgischen Listen mit?
Unbedeutend (Aus Deutschland 52 Jahre)

 

Kontakt zu den Machern

neumanu

 

 

Uta Neumann
VRT-Online-Redakteurin

Mobiltelefon: +32 (0) 474 911 262
Mail: uta.neumann°ät°vrt°punkt°be

flanderninfo.be

flanderninfo.be ist die deutschsprachige Website von VRT, dem flämischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Belgien.

Input: Bewährte Ideen aus den Redaktionen

Stefan Wirner erklärt wie Cockpit funktioniert
Hunderte Vollredaktionen, noch viel mehr Lokalredaktionen, mehrere Millionen Gesamtauflage: Wir haben in Deutschland eine breite Lokaljournalismuskultur. Genauso zahlreich wie die Redaktionen scheinen zuweilen auch ihre Konzepte für die Zukunft zu sein. Einer kennt sie alle. Oder zumindest viele: Stefan Wirner, Redaktionsleiter der drehscheibe. Er stellt im Input „Innovative Ansätze und Trends im Lokaljournalismus“ eben solche vor.

Das erste Tool ist Cockpit. Es wurde mit einem Media Consulting Team erarbeitet und wird im Medienhaus Lensing unter anderem von den Ruhr Nachrichten benutzt. Wir haben Cockpit bereits grob auf dem Blog vorgestellt, in seiner Präsentation (hier die Folien: Cockpit Evaluationstool ) geht Wirner aber noch mehr ins Detail: Cockpit bewertet in Stichproben. Handwerkliche Aspekte – sind alle W-Fragen beantwortet, die Quelle benannt – aber auch Aspekte wie Relevanz, Aktualität und Vermittlung werden berücksichtigt. Diese Hauptkriterien sind wiederum aufgeschlüsselt in weitere Punkte wie „Ist die Sprache einfach?“ und „Ist die Menge angemessen“. Am Ende werden diese Punkte, die durch Ja/Nein-Fragen generiert werden, summiert und fallen damit entweder in den grünen, gelben oder roten Cockpit-Bereich.

Ein Problem des Tools sei, so zitiert Wirner Ruhr Nachrichten Chefredakteur Wolfram Kiwit, dass man damit nicht überprüfen kann, ob die richtige Zeitung für das richtige Publikum gemacht wird. Eine Zeitung für Münster würde in Dortmund genauso viele Punkte bekommen, obwohl sie dort inhaltlich völlig fehlplatziert ist. „Auch den Stil, die Schreibe kann man damit nicht wirklich bewerten“, sagt Wirner. Eine Teilnehmerin, die ebenfalls wie die Ruhr Nachrichten aus dem Medienhaus Lensing kommt, erzählt, wie sie Cockpit im Arbeitsalltag wahrnimmt: Gut sei, dass die Redakteure für ihr handwerkliches Können sensibilisiert werden. Andererseits wäre aber die Punktvergabe bei Cockpit nicht immer nachvollziehbar. Leute von außerhalb codieren nämlich und werten die Artikel aus, Menschen, die nicht im Ort wohnen und das Blatt nicht regelmäßig lesen. „Dann bekommen wir zum Beispiel niedrige Punkte für Relevanz, weil wir das Thema nicht noch mal ausführlich eingeordnet hätten – dabei hatten wir es schon über mehrere Wochen im Blatt und es ist für unsere Leser enorm wichtig.“ Die Diskussion rollt an: „Gibt es nicht ein Raster, mit dem man in einer Dreiviertelstunde durch ist, und das man einen Monat rotieren lassen kann? Man könnte auch die Leser einbeziehen und eigene Kriterien entwickeln“, schlägt Sylvia Binner vom Bonner General-Anzeiger vor. Die Auswertung gut in den Alltag integrieren zu können, ohne dass Einzelne durch die Ergebnisse unter Druck gesetzt werden, scheint auch für die anderen Teilnehmer wichtig zu sein.

„Wir von der drehscheibe finden die Richtung des Tools gut; nämlich, in Zeiten des Wandels mehr auf Qualität zu schauen. Das Entscheidende ist, zu versuchen, möglichst objektive Kriterien aufzustellen“, sagt Wirner.

Und kommt zum nächsten Punkt: Programme für neue Erzählformen. Wirner stellt das ScribbleLive vor, mit dem Inhalte verschiedener Kanäle in einem Ticker zusammengestellt werden und bequem eingebunden werden können. Großflächige Fotos, Videos, Posts, Tweets. Man könnte auch mehrere Blogs zusammen laufen lassen, so wie der Nordbayerische Kurier mit anderen Zeitungen zur Kommunalwahl: Die Redaktion hatte Reporter in Rathäuser geschickt, in denen mit einer knappen Entscheidung zu rechnen war. „So ähnlich machten es auch die Augsburger und die Regensburger“. Alles floss dann in einem syndizierten Blog-Ticker zusammen. Storify sei ein vergleichbares Tool, und ist im Gegensatz zu ScribbleLive kostenlos.

Tolle Crossmediale Erzählungen können auch von Lokalzeitungen erfolgreich umgesetzt werden: Zum Beispiel die Arabellion-Serie der Rhein-Zeitung zu den Aufständen im arabischen Raum. Vorbild sei die Snow Fall Reportage der New York Times gewesen. Zuletzt seien auch Drohnenbilder eine spannende Option für Lokalzeitungen. „Das sind wahnsinnig gute Bilder, und der Leser kann sich damit eine Meinung von oben bilden“, sagt Wirner. Es kostet zwar etwas, und man brauche dafür auch eine Genehmigung, aber es kann sich unter Umständen lohnen darüber nachzudenken. Zuletzt präsentierte Wirner Perspektiven auf die Europawahl. Das schönste Beispiel brachte für ihn die Zeitung Publico aus Portugal. Das Blatt habe vor der Wahl zwei Leute durch ganz Europa geschickt. Ein Blog mit einer interaktiven Karten, vielen Fotos und Videos dokumentiert die Reise. Publico ist kein Riese unter den Lokalzeitungen, sie hat eine Auflage von rund 30.000 Exemplaren.

Guten Journalismus findet man überall.

 

 

 

Europawahl last minute

Foto: (cc) adesigna @flickr

Foto: (cc) adesigna @flickr

Zwei Konzepte aus unserer gewachsenen Ideensammlung, die sich noch auf die Schnelle vor dem Europawahltermin am Sonntag umsetzen lassen:

Vorschlag eins: Leserrätsel – Welcher Europa-Typ bin ich?

Vorschlag zwei: Die Redaktion und Freiwillige, die sich noch so kurzfristig gewinnen lassen, spielen den Wahl-O-Mat durch. Präsentieren Sie die Ergebnisse samt Statements der Tester: Der Wahl-O-Mat-Test

Mini-Podium Wächteramt: „Wenn Gegenwehr kommt, weiß man: Jetzt geht es richtig rund“

Jürgen Gückel berichtetBei all den Diskussionen über innovative Umsetzungsstrategien in den Redaktionen sollte eines nicht unter den Tisch fallen: Der Lokaljournalismus leistet etwas. Die Rede ist jetzt nicht von Verkaufszahlen, tollen Technologien oder den einzelnen Lesern. Der Lokaljournalismus leistet einen wichtigen Beitrag zu unserer Gesellschaft: Er ist der Wächter vor Ort, kann Korruption und Missbrauch aufdecken, mit einer Strahlkraft, die weit über die Region hinausreicht. Auf unserem Podium „Die lokalen Wächter“ erzählen die Wächterpreisträger Jürgen Gückel, Redakteur Göttinger Tageblatt, und Frank Thonicke, Leiter Lokalredaktion Kassel beim HNA, von ihren Erfahrungen mit Widerständen und dem richtigen Riecher für skandalöse Verwicklungen.

Wofür sie den Wächterpreis bekommen haben:

Gückel vom Göttinger Tageblatt hat 2013 den 1. Preis beim Wächterpreis zusammen mit Dr. Christiana Berndt, Süddeutsche Zeitung und Heike Haarhoff, taz gewonnen. Unabhängig voneinander haben sie „schwere Unregelmäßigkeiten und Fehlentwicklungen in der deutschen Transplantationsmedizin recherchiert und öffentlich gemacht. Ihre Veröffentlichungen beschleunigen den Prozess, die gesetzlichen Grundlagen der Organspenden grundlegend neu zu regeln“, heißt es auf der Dokumentationsseite zum Wächterpreis http://www.anstageslicht.de/ wo alle Geschichten nachgelesen werden können. Jürgen Thonicke vom HNA, der auch bei dem Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ intensiv an der Recherche beteiligt war und schon viel gesehen hat, hat den ersten Preis im Jahr 2006 gewonnen. Ausgezeichnet wurde er für seine „Aufdeckung von Käuflichkeit journalistischer Leistungen in der Sportredaktion des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Hessischer Rundfunk“. Gemeint ist der ehemalige HR-Sportchef Jürgen Emig.

Solche fertigen Einträge zu Preisträgern erschienen immer so glatt, als wäre es alles ganz einfach gewesen. Was steckt hinter den Geschichten?

Gückel deckt auf: Transplantationsskandal in Göttingen

„Einige Leser bieten uns Geschichten an, die erst ganz dramatisch klingen, dann aber immer kleiner werden. In dem Fall sollte es anders werden“, beginnt der Gerichts- und Polizeireporter Gückel zu erzählen. Ein vielsagender Anonym@Anonym.de habe der Redaktion mitgeteilt: „„Verdacht, dass Prof. O. mit Lebern handelt. Er habe sich wohl in das Ausland abgesetzt“. Dazu gab es sehr präzise Angaben zu dem Schauplatz, der Abteilung Transplantationsmedizin bei der Universitätsmedizin Göttingen. Der Hinweis wirke authentisch, befanden Lokalchefin Britta Bielefeld und Gückel. Schnell wurde klar: Das soll ins Blatt.  „Ich habe dann bei der Staatsanwaltschaft die Information bekommen, dass ein Ermittlungsverfahren mit Verdacht auf Bestechlichkeit läuft“. Später fand Gückel beim Klinikum heraus, dass der fragliche Professor sich bereits von dem Klinikum getrennt habe. Beziehungsweise sie sich „im gegenseitigen Einvernehmen“ getrennt haben. „Von Organhandel hätten die aber nichts gehört“, sagt Gückel. Diese Informationen, besonders die der Staatsanwaltschat reichten für einen Aufmacher. Juristische Absicherung sei mit am wichtigsten. Der Arzt war übrigens zwischenzeitlich tatsächlich kurz im Ausland, auf Jobsuche im arabischen Raum.

Wie wurde die Sache Online gebracht?, möchte ein Teilnehmer wissen. Die Antwort ist: es sei sogar zuerst online gewesen. Ganz exklusiv. Die Zentralredaktion habe das Problem zuerst gar nicht richtig eingeschätzt. Also habe die Lokalredaktion die Geschichte abends gegen 21, 22 Uhr selbst online gestellt.

„Plötzlich war deren Seite offline“

Es habe kurz danach verdächtige „sonderbare Begebenheiten gegeben“: Am zweiten Tag der Recherche sei plötzlich die Internetseite des Transplantationszentrums down gewesen. „Wenn irgendwo Gegenwehr kommt, weiß man: Jetzt geht es richtig rund“, sagt Gückel.  Am fünften Tag danach erschien dann auf Seite drei der Süddeutschen der umfangreiche Hintergrundartikel von Berndt. Ein paar Fernsehsender meldeten sich bei Gückel, der habe jedoch abgelehnt.“ Danach war erst mal vier Wochen Ruhe, der Korruptionsverdacht „Geld gegen Leber“ stand aber nach wie vor im Raum“, sagt Gückel. Dann ging alles ganz schnell: Beim Kongress der Deutschen Transplantationsgesellschaft in Berlin sind 25 Verdachtsfälle an der Uniklinik in Göttingen ans Licht gekommen. Schnell hieß es „Das ist der größte Transplantationsskandal, den wir hier je hatten“. Es bestand der Verdacht, dass Menschen operiert worden seien, ohne dass tatsächlich die Notwendigkeit besteht. Es seien auch Menschen gestorben. Zudem seien auch Leute operiert worden, die medizinisch gar nicht geeignet gewesen waren, wie Drogenabhängige etc. Die Pressekonferenz am Klinikum Göttingen war rasend schnell brechend voll. Das Ergebnis: Die Warteliste für eine Leber an dem Klinikum wurde manipuliert. „Ermittelt wurde erst nur gegen einen, aber es kristallisierte sich heraus, dass ein Ärzteteam ein ganzes System geschaffen hatte, um schnell an Lebern zu kommen.“ Falschangaben über Dialysen und manipulierte Blutwerte sollten einzelne Menschen auf der Warteliste weiter nach oben pushen, sodass sie teilweise noch in derselben Nacht eine neue Leber bekommen haben. Als sich dann Prof. O. wirklich absetzen wollte, wurde er des versuchten Totschlags in 11 Fällen angeklagt. Denn: Wenn Leute an die Spitze der Liste gemogelt werden, müssen andere, eigentlich viel dringendere Patienten zurückstehen. Da sie hätten sterben können, seien sie Opfer eines versuchten Totschlags, argumentierte das Gericht.

Und wie hat die Redaktion bzw. Gückel dann den Wächterpreis bekommen? Nun, sie warten die ersten. Sie enthüllte den Skandal, und machten bei der Bewerbung darauf aufmerksam. „Jeder hat nach seinen Kompetenzen und seinem Auftrag gehandelt. Wir haben als Lokalzeitung den Auftrag, für unsere Region zu schreiben.“ Das Überregionale hätten sie den anderen überlassen – und das sei gar nicht schlimm gewesen. Aber: „Seitdem rufen mich auch immer wieder überregionale Kollegen an“, die ihre Arbeit gerade in dem Themenbereich nun viel ernster nehmen würden. Die Redaktion des Göttinger Tageblatts habe übrigens bis zum Schluss nicht den Namen des Arztes voll genannt.  „Er hat uns gegenüber dann nicht ein einziges Mal interveniert oder gedroht.“

Thonicke bringt Skandal ins Rollen: HR-Sportchef verkauft Sendezeit für viel Geld

Auch Thonicke kennt sich aus mit schwierigen Rercherchen und Enthüllungen von Skandalen. Seine Geschichte begann 2004 bei einem Eishockeyspiel in Kassel. Ihm ist aufgefallen, dass der Sportchef des Hessischen Rundfunks Jürgen Emig im Publikum saß, habe sich aber zunächst nicht so viel dabei gedacht. Abends, als er den Spielbericht gesehen hat, war er erstaunt, wie präsent über Hessenlotto berichtet wurde, die in den Pausen kleinere Spiele angeboten hatten. Verdächtig präsent. Mehr als die Hälfte der Sendezeit über das Spiel sei für Hessenlotto genutzt worden. Nach einer Recherche fand Thonicke heraus, dass die Frau von Emig in einer PR-Agentur tätig war, zu deren größten Kunden Hessenlotto gehörte. Diese fragwürdigen Verbindungen erschienen im HNA. Thonickes Riecher für onskure Geschäfte sollte einen großen Skandal ins Rollen bringen: Emig hatte systematisch Sendezeiten gegen Geld verkauft. Wer zahlte, kam ins Fernsehen. „Danach kam ich kaum vom Telefon weg. Alle erzählten mir von der Zusammenarbeit mit Herrn Emig“. Thonicke habe am Ende eine Liste mit 40, 50 Managern und Sportvereinen gehabt, die alle dasselbe erzählt hätten. Der Verdacht erhärtete sich.  „Selbst Bundesliga-Handballer hatten für Herrn Emig mehrere Tausend Euro zusammengetragen“, sagt Thonicke. Nach drei Wochen erklärte Emig dann seinen Rücktritt. Die offizielle Lesart war, dass Emig von sich aus zurückgetreten sei. „Dann kamen aber auch die ganzen Versagen des HR zur Sprache“, sagt Thonicke. „Gleichzeitig hatte die Staatsanwaltschaft die ganzen Artikel gelesen und leitete ein Ermittlungsverfahren ein“. Emig wurde im Herbst 2008, drei Jahre nach seiner Verhaftung, zu rund zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Hatten sie Hemmungen gegen den Journalist zu recherchieren, möchte ein Teilnehmer wissen. „Es ist natürlich schwieriger gegen eigene Kollegen zu schreiben als gegen Manager“, sagt Thonicke. Die Folgen – die ja bis ins Gefängnis reichten – seien damals auch kaum absehbar gewesen. Dennoch: „Es ging um die Sache“. Dieser Skandal um Käuflichkeit hatte die Berichterstattung quasi nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten. Dennoch sei es ein unbeliebter Job gewesen. Die meisten seien froh gewesen, dass die anderen den Dreck für sie erledigen, sagt Thonicke.

Viele Ansprechpartner stellen sich tot

Beiden „Wächtern“ sei das Phänomen begegnet, dass sich die betroffenen Einrichtungen sich „tot stellen“ und das Problem aussitzen wollten. Man müsste dran bleiben, nach weiteren Quellen suchen. Es gebe laut Gückel drei Bereiche, in denen es unglaublich schwer sei zu recherchieren. Der erste sei Verfassungsschutz und V-Leute. Der zweite Bereich, der „schwierig, fast unmöglich ist“, sei das Finanzamt. Egal was man frage, man bekomme in der Regel eine Antwort „Steuergeheimnis!“. Auch auf dem Kapitalmarkt sei es schwer etwas aus Betroffenen rauszukommen, weil sie bis zuletzt hofften, dass sie „doch nicht die gelackmeierten“ seien. Über sechs Jahre habe er mal in einem „Wirtschaftsclub“ recherchiert, bis zuletzt sei es schwer gewesen, Informationen zu erhalten. Thonicke stimmt ein, dass auch Angaben vom Justizministerium schwierig zu erhalten wären.

Viel Hartnäckigkeit kostet aber auch Zeit. „Leider hat sich unser Arbeitsalltag in den letzten Jahren so verdichtet, dass eine so intensive Recherche kaum mehr möglich ist“, sagt Thonicke. Jeder Kollege sei verpflichtet sein Thema in allen Kanälen umzusetzen, das koste Zeit. Und genau die brauche man, um sein Wächteramt zu erfüllen. Es geht nur im Team, mit Luft. Aber: Es ist möglich.

„Dass es Lokalzeitungen dennoch gelingt aus dieser Dichte auszubrechen, spricht für ihre große Qualität“, bringt Anke Vehmeier, freie Journalistin und Seminarleiterin hier, es zum Schluss auf den Punkt.

 

 

 

 

 

Infografik, Twitter-Check und Europa-ABC

© Mittelbayerische Zeitung

© Mittelbayerische Zeitung

Die Europawahlkandidaten für Ostbayern haben sich für die Leser der Mittelbayerischen Zeitung (MZ) kurzgefasst. Die MZ stellt die Positionen zu sieben Themen in einer Tabelle nebeneinander. Zudem zeigt eine seitenfüllende Infografik, wie die Besetzung der EU-Institutionen funktioniert und wer zur Staatengemeinschaft gehört.

 

–> PDF der Panoramaseite

Konzept eins: Fassen Sie sich kurz!

Zu sieben Themen positionierten sich die Europaabgeordneten: Europas Flüchtlingspolitik, Jugendarbeitslosigkeit, EU-Außenpolitik, Euro-Schuldenkrise, Souveränität der Mitgliedstaaten, der Aufschwung der rechtspopulistischen Parteien sowie eine VorschaKandidatencheck_lokal_Regensburg_160913u auf Europa in zehn Jahren.

Für die Antworten wollte MZ-Politikchef Christian Kucznierz den Europaabgeordneten ursprünglich eine Tweet-Länge – also 140 Zeichen – als maximale Antwortlänge vorgeben (wie im Bundestagswahlbeitrag rechts). „Aber das wurde mir zu schablonenhaft, weil da nicht viel gesagt werden kann“, erklärt Kucznierz. Schließlich gab er ihnen 360 Zeichen, um ihren Standpunkt zum jeweiligen Thema zu formulieren. –> PDF der Panoramaseite

Der „Twitter-Check“ war eine Idee einer MZ-Lokalredaktion: „Die Direktkandidaten des Bundeswahlkreises Regensburg mussten mit bloß 140 Zeichen erklären, wofür sie in der Verkehrspolitik stehen“, erläutert Kucznierz. Gar nicht so einfach für solche, die nicht direkt auf den Punkt kommen – da mussten die Redakteure stark straffen.

 

Konzept zwei: Infografik

Die Infografik zeigt die wichtigsten Institutionen der Europäischen Union und wie ihre Besetzung funktioniert.

Zudem gibt es eine Landkarte mit den Mitgliedstaaten samt Beitrittsjahr, Einwohnerzahl und Landesfläche sowie den Beitrittskandidaten.

Die Grafik entstand in Kooperation mit der Main-Post.
–> PDF der Panoramaseite

Interaktive Infografik im Netz

EU_Karte für Online Kopie

Die Infografik links ist auf der MZ-Webseite interaktiv (19. Mai 2014) und liefert Zahlen und Fakten zur Entwicklung der Europäischen Union. Copyright: MZ.

Europa als fester Bestandteil im Blatt

EU-Berichte tauchen in der Mittelbayerischen Zeitung (MZ) im ganzen Blatt auf – fortlaufend. Mal ist es ein „Thema des Tages“ wert, mal ist es etwas für die Wirtschaft oder die Medienseite, wenn es zum Beispiel um Urheberrechtsabkommen geht.

„Die Bürger ständig über EU-Themen auf dem Laufenden zu halten, ist eine wichtige Voraussetzung. Damit sie wissen, warum sie überhaupt wählen sollen“, erklärte Politik- und Nachrichtenchef Christian Kucznierz in seinem Werkstattbericht bei der bpb-Redaktionskonferenz in Offenburg.

Themen zur Europawahl

Die Europawahlthemen teilt Kucznierz in folgende Informationskategorien auf:

  1. Was wähle ich? (Beleuchten der Parteiprogramme und Infos zu den Institutionen)
  2. Wen wähle ich? (Vorstellung der Europaabgeordneten)
  3. Was bedeutet Europa konkret? (Konsequenzen der EU-Gesetze vor Ort)

[Ihre Ideenliste haben Lokaljournalisten der Arbeitsgruppe „Europawahl 2014“ bei der bpb-Redaktionskonferenz ähnlich strukturiert:
–> Ideenliste zur Europawahl 2014]

MZ-Konzepte zur Europawahl 2009

  • In der Mittelbayerischen Zeitung gab es zur Europawahl 2009 Infografiken, die veranschaulichten, wie die Wahl funktioniert.

Beispiel Europa-Abc

  • Die Brüssel-Korrespondentin Hanna Vauchelle schrieb das EU-ABC. Eine Rubrik mit 26 kurzen Erklärtexten zu Stichworten mit EU-Bezug als Serie – mal witzig, mal ernst geschrieben.

 

 

 

Vorbericht Vorurteile

 

  • In einer Kolumne räumt die Korrespondentin mit Vorurteilen gegenüber der EU auf. Sie beschreibt Kontra und Pro – „zu bürokratisch, ja aber…“

 

 

 

 

 

 

  • Und in einer Umfrage kommen Bürgerinnen und Bürger zu Wort, die erklären, was sie von Europa wollen.

Sammelmappe mit Beispielen als PDF: © Mittelbayerische Zeitung

 

 

Kontakt zu den Machern

 

Kucznierz-neu

 

 

Christian Kucznierz
Politik- und Nachrichtenchef Mittelbayerische Zeitung

Telefon: +49 (0) 941 207 344
Mail: christian.kucznierz°ät°mittelbayerische°punkt°de

Mittelbayerische Zeitung

Die Mittelbayerische Zeitung gilt mit ihren 13 regionalen Ausgaben in der Oberpfalz und großen Teilen Niederbayerns das Medium Nummer eins. Sie erreicht mit einer Auflage von über 130.000 Exemplaren täglich rund 400.000 Leser und verzeichnet Auflagenzugewinne.

Podium: Gegen den Strom schwimmen – und nah am Menschen

MinipodiumFrüher war alles besser? Nun, es war zumindest anders: Auf dem Podium „Innovation in Lokalredaktionen – gestern und heute“ reden Johann Stoll, Redaktionsleiter Mindelheimer Zeitung, Dieter Schreier, Chefredakteur Hanauer Anzeiger, Lars Reckermann, Chefredakteur Schwäbische Post/Gmünder Tagespost und Katharina Ritzer, Redaktionsleiterin Online und Digitales Nordbayerischer Kurier darüber, wie man die Redaktion voranbringt. Darüber, was wirklich zählt. Es wird erfrischend direkt.

Die Diskussionsrunde beginnt klassisch: Was muss man heute tun, um Qualität im Blatt durchzusetzen? Für Stoll ist Humor im Blatt wichtig, und berichtet davon, wie die Zeitung mal den Nikolaus aufgrund seiner vielen Einbruchsdelikte festnahm (diesen und weitere Artikel finden Sie hier: Verhafteter Nikolaus, LandratswahlKandidatengrillen 2013 ) „Man darf sich nicht vom Terminjournalismus jagen lassen“.

Gilt das auch für Online?

„Ich bin kein Freund davon, so zu tun, als seien Online-Leser andere als Print-Leser“, sagt Ritzer. Ob eine Geschichte ankommt, ob sie einen Nerv trifft – wie eine Geschichte über einen toten Hasen bei der Hasenpest, die bei facebook über 300 mal geteilt wurde – sei immer wieder Überraschung. Auf den Kanälen würde sich das nicht extrem unterschieden, schließlich handle es sich immer um User, die in der Region wohnen und den Bezug zu ihrem Leben suchen. Wenn etwas Online aber gut läuft, wirke es in Print zurück. „Wir sitzen da an einem Tisch“, stellt Ritzer klar. Was sie aber zum Beispiel „wahnsinnig geärgert“ habe, ist, dass ein Video, das online sehr gut lief, erst ins Blatt gehoben wurde, als sich der Trend woanders widergespiegelt habe – ihr eigener Hinweis darauf sei ignoriert worden. „Nach dem Motto: Wenn es nicht in der dpa ist, ist es keine Geschichte.“ Hier gebe es deutlichen Verbesserungsbedarf.

Sich nicht so viel Stress machen?

Das ist jedoch kein Thema, das Reckermann in dem Moment unter den Nägeln brennt. „Was ich spannend finde: Wir haben unglaublichen Druck, immer kreativer zu werden“, sagt er. „Manchmal muss es auch mal gut sein“. In seiner Redaktion gebe es keinen reinen Onliner, sondern nur Redakteure, die alles können müssen. Mehr sei mit kleinen Redaktionen nicht machbar. Und von dieser Symbiose könnten die Inhalte sogar profitieren. „Eine Überschrift, die über Google gut gefunden wird, kann auch für das Blatt nicht schlecht sein.“

Bis jetzt ist der Abend noch brav. Dann fängt der Slapstick an: Schreier stimmt Reckermanns Tenor zu : „Man muss nicht gleich verrückt spielen.“ Wenn die Redaktion es schaffe, dass der Leser einmal bei Zeitungslesen am Frühstückstisch lache, dann reiche das schon. Der Kernpunkt sei für Schreier, für die Leser zu schreiben, und nicht für sich selbst. Das wäre fatal. Und: „Es war der größte Fehler, dass die Journalisten aufgehört haben zu saufen“, sagt Schreier augenzwinkernd. Das habe nämlich für besondere Nähe zu den Menschen gesorgt, die Zunge gelockert. Er bedaure es, dass einige Journalisten aufgehört hätten, sich tatsächlich mit den Leuten an einen Tisch zu setzen. Ritzer hält dagegen, dass dies heute aber nicht unbedingt anders sein müsse. Das laufe auch im Bereich Social Media so: Auch sie hätte den Volontären gesagt, dass sie nicht direkt nach Veranstaltungen gehen, sondern bleiben und die Ohren spitzen sollen  – und dabei nicht unbedingt nur Apfelschorle trinken müssten.

Stoll spricht sich derweil dafür aus, Kollegen auch mal eine Geschichte machen zu lassen, die ihnen wichtig ist. Auch wenn das hochspezialisierte Artikel sind: „Die lesen dann vielleicht nur eine Handvoll Leute, aber die sind dann auch so begeistert von der Zeitung, dass sie am Ball bleiben“. (geändert am 22.5) Reckermann glaubt, dass Organisation zählt. Die Redaktion hätte sich teilweise schon „totkonferiert“.

Neue Facetten an alten Geschichten entdecken und gut neu erzählen

Wenn man eine kreative, „schräge“ Idee hat, könnte man die immer auch so realisieren dass sie alle interessiert. Viele haben das nur verlernt, sagt Reckermann. Beispiele? „Da hat jemand einfach mal ein Kaninchen hingestellt und erklärt, worauf die Preisrichter achten“. Also keine Vereinslobby, sondern ein Erklärstück, und so würden auch „klassische Themen“ wieder funktionieren. Und für einen Text zu einer Chorprobe habe die Redaktion einfach selbst mal mitgesungen. „Man darf nur nicht protokollarisch werden.“ Teilweise würde der Leser aber auch gar nicht mehr erwarten, dass da eigene Geschichten hinter stecken. „Das Foto von einer Orgel kann reichen, damit die Leserquote auf 0% fällt“. Also: Es gilt, exklusive Inhalte auch als solche zu vermarkten. Und zu erkennen, was man aus Klischees rausholen kann. „Haben Kaninchenzüchter nicht den gleichen Respekt und die gleiche Aufmerksamkeit verdient wie drei Leute, die wegen eines abgehackten Baums Randale machen?“, fragt Schreier ernst. Es gehe beim Kaninchenzüchten schließlich um Verantwortung, um Vereinsorganisation, gesellschaftliche Strukturen.

Sylvia Binner vom Bonner General-Anzeiger fast zusammen: „Erhebt euch nicht über die Leser, auch wenn es Kaninchenzüchter sind“. Stoll widerspricht, dass das nie der Fall gewesen wäre, dass eher zu viel über die „Herrschenden“ geschrieben worden wäre. Ritzer erkennt das, was Schreier schilderte, aber teilweise im Alltag wieder: „Viele Leute nehmen es als Strafe war, zu Vereinsversammlungen zu gehen.“ Sie finde es aber im Gegenteil gut, überall Leute hinschicken zu können, wo Bedarf besteht. Wo die Leute etwas zu erzählen haben. Es gebe keinen Grund zur Geringschätzung.

Alles übertrieben?

Ein Blick in die Zukunft: Wie wird es weitergehen? Reckermann beschreibt die Sorge, dass die Zeitung irgendwann überflüssig sein könne, weil die junge Generation nicht mehr mit ihr sozialisiert werde. Außerdem drohe PR die Nachrichtenfunktion zu ersetzen. Schreier warnt hingegen vor Fatalismus. Ab einem gewissen Alter habe man so viel erlebt, so viel gehört – und gesehen, dass sich nur ein Bruchteil der schlimmen Prophezeiungen bewahrheite, wenn überhaupt. „Wer sagt denn, dass die große Frage mit mobilen Endgeräten und Social Media wie Facebook auf Dauer so weiterlaufen wird? Das sind echte Zeitfresser.“ Vielleicht werde es ja gerade wieder spannend, dass Zeitung begrenzt Platz bieten kann, sagt Schreier. Den Hype um Klicks könne er nicht jedenfalls nachvollziehen. Es sei so viel Geld in den letzten Jahren verbrannt worden, in Trends wie StudiVZ  oder Second Life, die sich später dann als irrelevant erwiesen haben. Er plädiert für Gelassenheit.

Und was sagt die Onlinerin der Podiumsrunde dazu? „Wir reden hier doch nicht über Zeitungen auf Papier, sondern über Journalismus“, sagt Ritzer. Wenn es Endgeräte sind, und nicht Printprodukte die zählen, habe man doch keine andere Wahl als die Dinge digital anzubieten – und das sei überhaupt kein Problem. Solange Journalismus selbst noch gefragt ist. Ihr mache eher die Vorstellung „Angst“, wenn Qualitätsjournalismus selbst in Frage gestellt wird. Es besorge sie, dass an die Redaktion manchmal der Vorwurf herangetragen würde, Unfälle etc. nicht direkt zu veröffentlichen – und kein Verständnis dafür zu haben, dass zu gutem Journalismus auch eine stichfeste Recherche gehört, die eine Weile dauern kann.

Die wichtigste Arbeit der Redaktionen

Apropos guter Journalismus: Was ist das Wichtigste, was Sie in den Redaktionen machen?

Schreier: „Gegen den Strom schwimmen. Nicht bei jedem Mainstream gleich mitmachen, einfach mal andere, eigene Storys mit eigenen Perspektiven erzählen.“

Stoll: „Wir müssen Wege finde, um Nähe zu den Lesern aufzubauen. Wir haben beispielweise Cafehausbesuche ausprobiert: die Menschen direkt eingeladen, mit uns zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Cafe in Kontakt zu treten. Das war teils gut, teils schlecht, aber es sind immer Geschichten abgefallen. Der Ansatz ist richtig.“

Was passiert in Bayreuth, um mit den Lesern Spaß zu haben?

Ritzer: „Wir haben unsere kleine facebook-Community. Was die einem um die Ohren hauen kann auch richtig weh tun, aber jede Woche entstehen so gut drei oder vier Geschichten. Wir müssen uns auch verabschieden von einem Workflow, den wir aus dem Print-Rhythmus gewohnt sind. Wir müssen uns anders strukturieren. Zettelkästen mit Telefonnummern finde ich in Zeiten wie diesen auch fragwürdig“ – ein Teilnehmer aus dem Plenum widerspricht vehement „– weil man diese Informationen kaum teilen kann. In diesem Sinne muss man die Organisation verbessern“.

Und in Schwaben?

Reckermann „ Wir haben es versucht und merken, dass wir jeden Tag etwas Neues machen können. Es ist so wichtig, dass sich die Leute bei uns wiederfinden. Ich stehe auch der Auslagerung der Vereinsberichterstattung kritisch gegenüber. Ich sage ja zur Vereinsberichterstattung. Aber nicht so, wie wir sie bislang oft erzählt haben – sondern mit Liebe.“

Zwischenmeldung aus den Arbeitsgruppen: Wir nähern uns einem Ergebnis

Mittlerweile sind wir seit zwei vollen Tagen im ländlich-idyllischen Irsee, und in den Arbeitsgruppen wird mächtig geackert. Die jeweils rund zehn Journalisten haben sich kennen gelernt, beziehen Stellung, diskutieren ihr Thema. Morgen Abend müssen die Ergebnisse stehen. Ein ganz kurzer Gruß aus den Gruppen:

Den Desk stemmen. Arbeitsgruppe Newsdesk_RegiodeskWir stemmen den Desk: Die Arbeitsgruppe eins tüftelt mit Leiterin Dr. Kerstin Loehr von den Wolfsburger Nachrichten zum Thema “ Newsdesk, Regiodesk – Chancen für den journalistischen Nachwuchs“ . Wie muss ein Regiodesk aufgestellt sein, um eine effiziente und zugleich qualitative Arbeit zu ermöglichen, die Journalisten echte Chancen bietet? Die Gruppe entwickelt das Irseer Modell für einen Muster-Regiodesk. Das soll nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gut sein, und für Redaktionen unterschiedlicher Größe geeignet.

 

Arbeitsgruppe neue ÖffentlichkeitÜber „die neue Öffentlichkeit – Gesicht zeigen und Gesichter sehen“ debattiert gerade Arbeitsgruppe zwei, ihr Leiter ist Jens Nähler vom HNA. Ganz konkret geht es z.B. um Facebook und wie man seine Nutzung in der Redaktion durchsetzen kann und sollte, berichtet ein Teilnehmer. Die große Frage heute lautet, ob und wenn ja wie man die berufliche und private Identität im Netz voneinander trennen sollte.

Arbeitsgruppe RechercheRecherche im Lokalen: Rein ins Netz oder raus auf die Straße? Beides, sagt Britta Bielefeld vom Göttinger Tageblatt, Leiterin der Arbeitsgruppe drei zum gleichnamigen Thema. Satte Ergebnisse hatte die Gruppe schon gestern schon, heute gehe es „ums nackte Überleben“. Darum, sie alle zusammenzutragen. Alle Fragen seien geklärt, verschiedene Strategien ausgearbeitet. Die Lösung bekommen wir morgen.

 

Q für Qualität. Die Arbeitsgruppe QualitätQ für Qualität: „Alles eine Frage der Qualität – so machen wir den Lokalteil besser“ ist das Motto der Arbeitsgruppe vier unter der Leitung von Yvonne Backhaus-Arnold vom Hanauer Anzeiger. Und weil das mit der Definition von Qualität ja bekanntlich so eine Sache ist, hat sich AG vier in mehrere Teilgruppen unterteilt. Zu „Handwerk“, „Arbeitsbedingungen“, „Philosophie“ und „Vielfalt“ erarbeiten sie Teilkonzepte.

 

Weitere Fotos von unserer Arbeitsumgebung:

Springbrunnen im Hof Der Arbeitsplatz ist heute draußen

Idyllischer Klosterturm

Reales Postkartenmotiv: Das Klosterviertel von Irsee aus gesehen