Der erste Abend des Modellseminars begann gleich mit einer brisanten Podiumsdiskussion. Immerhin war sie der Frage gewidmet: „Lügen wir wie gedruckt? – Was andere über uns denken“. Als Teilnehmer waren Frank Nipkau, Redaktionsleiter des Zeitungsverlags Waiblingen, Henning Noske, Leiter der Lokalredaktion bei der Braunschweiger Zeitung, Prof. Dr. Jens Grosse, Leiter des Fachbereichs Journalistik an der Fachhochschule des Mittelstands Hannover sowie Stefan Aschauer-Hundt, Leiter der Lokalredaktion des Süderländer Tageblatts, anwesend. Die Moderation übernahm Ralf Freitag vom Lippischen Zeitungsverlag.
Zunächst berichtete Stefan Aschauer-Hundt, wie er seine Arbeit als Lokaljournalist angesichts der derzeit scheinbar zunehmenden Kritik wahrnehme: „Hasskampagnen verändern uns mehr, als wir uns eingestehen möchten. Man ist zunächst mal sprachlos.“ Seiner Meinung nach verschiebe sich der journalistische Schwerpunkt, da man es zunehmend mit einer Gruppe von Menschen zu tun habe, der man nicht mehr mit Argumenten begegnen könne. Henning Noske betonte hingegen, dass er keine Zunahme der Kritik konstatieren könne: „Kritische Gegenbewegungen, die versucht haben, die Presse in die Schranken zu weisen, hat es schon immer gegeben. Neu ist nur, dass uns die Kommentare über die Onlineplattformen jetzt viel unmittelbarer erreichen.“ Er rät aus diesem Grund dazu, dass die Lokaljournalisten die Dinge nicht zu schnell persönlich nehmen dürften. „Das ist nun mal Teil unseres Geschäfts. Wir müssen da einfach robust sein und Verantwortung übernehmen.“ Um Missverständnisse zu vermeiden, fügte er hinzu, dass es natürlich nicht sein dürfte, dass ein Leser einen Kollegen bis zum Burnout durchbeleidigen könne, „ohne das etwas passiert. Dafür brauchen wir jetzt klare Regeln, einen unmissverständlichen Pressekodex. Wir müssen sehen, wie wir die vielen Player da draußen wieder unter die Decke des Qualitätsjournalismus bekommen. Das wird eine große Herausforderung.“ Doch sieht Noske gleichzeitig Chancen: „Man hat jetzt natürlich viel bessere Wege, um mit den Lesern in einen Dialog zu treten. Wenn es gelingt, die Shitstormer fernzuhalten, hat man ein ganz wunderbares Mittel, um mit den Lesern zu kommunizieren.“ Aus dem Plenum meldete sich daraufhin Achim Kienbaum vom Soester Anzeiger zu Wort, der ebenfalls die positive Seite herausstellte: „Die Lokaljournalisten haben viel zu lange auf einem verdammt hohen Ross gesessen. Wir sollten daher alle dankbar dafür sein, dass wir jetzt viel mehr Rückmeldungen bekommen und dadurch dazu angeregt werden, unser eigenes Handeln zu reflektieren.“
Damit sprach Kienbaum einen Aspekt an, um den sich die Diskussion ebenfalls drehte. So warf Ralf Freitag die Frage ein, ob denn an der Kritik etwas dran sei. Hier fand Frank Nipkau klare Worte: „Unsere Branche hat nichts dazu gelernt.“ Zur Untermauerung seiner These führte er die Berichterstattung nach dem Amoklauf von Winnenden und dem Absturz der Germanwings-Maschine an. Er konstatierte einen mangelnden Respekt der Medien vor den Trauernden, das Bedrängen von traumatisierten Menschen durch Medienvertreter. „Warum müssen die Angehörigen der Opfer belagert werden? Es ist doch klar, dass es ihnen schlecht geht.“ Und erklärte weiter: „Die Berichterstattung zu diesen Ereignissen war doch nicht das Hohelied des Journalismus, wo es großer Aufklärung bedurfte.“ Noske berichtete in diesem Zusammenhang von der Lesewert-Untersuchung bei der Braunschweiger Zeitung. Ergebnis: Geschichten, die ganz dicht beim Leser sind, die einen emotionalen Kern haben, seien gut gelaufen. Er vertritt die Meinung, dass die Redaktionen ihr Gesicht, auch ihr emotionales, zeigen und sich auf die Augenhöhe der Leser begeben müssten. Dessen ungeachtet empfahl Nipkau: „Wir sollten keine Blutspur durch unser Blatt ziehen.“ Noske warf daraufhin ein, dass es nicht ginge, dass Zeitungen über bestimmte Geschehnisse nicht berichten. „Wenn zum Beispiel ein Flüchtlingsheim brennt, dann müssen wir doch dahin. Unabhängig davon, ob Hundertschaften von Kamerateams schon vor Ort sind.“ Auch diesbezüglich vertrat Nipkau einen anderen Standpunkt: „Natürlich kann ich sagen, dass ich über bestimmte Dinge nicht berichte und als Zeitung meinen eigenen Kurs wähle. Wir haben nach Winnenden zum Beispiel auf Opferfotos verzichtet, keine Opferfamilien angesprochen, sind nicht zu Beerdigungen gegangen.“
Während sich Nipkaus Ausführungen vor allem auf die Frage bezogen, wie nah die Lokalzeitungen den Opfern und deren Angehörigen sein dürften, griff Henning Noske schließlich den Vorwurf der „Systempresse“ auf. „Damit wir nicht unter den Verdacht geraten, dem System nahe zu sein, müssen wir ganz klar Stellung beziehen. Wir tragen keine Verantwortung in dem Sinne, dass wir Projekte oder ähnliches durchbringen müssen. Wir sitzen auf der anderen Seite und deshalb sind wir dazu angehalten, kritisch zu sein.“
Dass den Lokalredaktionen eine kritische Haltung inhärent sein müsste, traf auf allgemeine Zustimmung. Ebenso waren sich die Teilnehmer weitestgehend darüber einig, dass Redaktionen heute sehr viel stärker erklären müssten, was, warum und wie sie es machen. Und die jüngste Teilnehmerin des Seminars, Pia Rothacker von der Sindelfinger Zeitung, 25 Jahre alt, meldete sich schließlich mit einem weiteren Ratschlag zu Wort: „Die Alten und die Jungen müssen viel stärker voneinander lernen, als es bisher der Fall ist.“