Manchen drängt sich angesichts der letzten Entwicklungen in der deutschen Parteienlandschaft der Eindruck auf, dass es – gerade auch durch das Aufkommen der AfD – zu einer „Kontinentalverschiebung“ gekommen ist.
Prof. Dr. Everhard Holtmann, Forschungsdirektor des Zentrums für Sozialforschung Halle, geht der Begriff „Kontinentalverschiebung“ in diesem Zusammenhang jedoch zu weit. Er spricht stattdessen von einer „neuen Akteurskonstellation“ in der Parteienlandschaft, denn seiner Meinung nach sollte man die Veränderungen mit einem „nüchternen Blick“ betrachten und dabei vergangene Entwicklungen nicht vergessen. So weist er darauf hin, dass es in der bundesdeutschen Geschichte mehr als einmal Situationen gab, in denen sich das Parteiensystem merklich gewandelt hat. In den 80er-Jahren kamen die Grünen hinzu, nach der Wiedervereinigung die Linke. „Seitdem steht immer wieder die Frage im Raum, ob es ein Sechs-Parteien-System geben wird oder nicht“, sagt Holtmann. Diese sei bis heute noch nicht abschließend geklärt. „Das bundesdeutsche Parteiensystem hat bisher eine enorme Integrationsfähigkeit bewiesen. Die Frage ist natürlich, ob das mit der AfD so bleibt“, betont Holtmann. Der Sozialforscher versucht im Folgenden darzulegen, wie sich das Aufkommen und der Erfolg der AfD erklären lassen.
Eine resignative Selbstzuschreibung, nach dem Motto „Ich kann ohnehin nichts ausrichten“, sei einer der zentralen Beweggründe für Wahlenthaltungen in Sachsen-Anhalt.
Es könnte also eine Aufgabe der Lokalzeitungen sein, den LeserInnen mittels der Berichterstattung deutlich zu machen, dass sie – auch mit ihrer Stimme – sehr wohl dazu in der Lage sind, Dinge zu verändern. Eine Reportage über lokale AktivistInnen oder ein Hintergrundstück zu einer erfolgreichen Petition sind nur zwei von vielen Möglichkeiten. Natürlich kann eine Lokalzeitung auch Aktionen initiieren, die die LeserInnen zur Wahl motivieren sollen. Dies hat beispielsweise der Kölner Stadt-Anzeiger mit dem Projekt „Kalk wählt“ getan. Zudem betont Prof. Dr. Everhard Holtmann, dass die Stimmungslage der 30- bis 50-Jährigen in Arbeit viel stärker beachtet werden müsse. So würden Forschungen zeigen, dass unter dieser das Gefühl verbreitet sei, dass ihre Leistungen nicht anerkannt und angemessen honoriert werden würden.
Das situativ – im Einklang mit der bundesweiten Stimmung – aufgeladene und als dringlich empfundene Flüchtlingsproblem ist unterlegt mit strukturellen Erfahrungslagen aus der Arbeitswelt, die als Mängel „guter Arbeit“ abgespeichert sind. Inwieweit zwischen solchen Erfahrungen aus der Arbeitswelt, einer diffusen pessimistischen Einschätzung des Entwicklungsstandes und der Entwicklungschancen des Landes sowie dem ausgeprägt politikkritischen Grundklima ein Zusammenhang besteht, bedarf indessen noch näherer Untersuchung. (Prof. Dr. Everhard Holtmann, Forschungsdirektor des Zentrums für Sozialforschung Halle)
Holtmann regt also dazu an, dass Lokalzeitungen diese Bevölkerungsschicht auch vermehrt in den Blick nehmen sollten.
„Gerade durch die programmatische Linksverschiebung im Parteiensystem hat sich eine Repräsentationslücke ergeben – und die AfD füllt genau diese aus“, erklärt Holtmann. Er belegt schließlich anhand von Zahlen, die infratetst dimap erhoben hat, dass die AfD bei den Landtagswahlen wie ein Staubsauger funktioniert habe. „Sie hat sich von allen Seiten WählerInnen gezogen. Vor allem konnte sie NichtwählerInnen mobilisieren.“
Vielen der anwesenden JournalistInnen stellt sich schließlich noch die Frage, wie sie mit der AfD umgehen sollen. Laut Everhard Holtmann ist der beste Weg, die Defizite der AfD aufzuzeigen. So betont er: „Es gibt genügend Bereiche, in denen die AfD inhaltlich nichts vorzuweisen hat. Weisen Sie auf diese Defizite hin, kommen Sie ihnen mit Sachargumenten bei.“