Marcus Bürzle, stellvertretender Lokalchef bei der Augsburger Allgemeinen, hat in seiner Redaktion den Realitätscheck gemacht: Was kommt bei den Lesern wirklich an?
Wie schaffen wir die Leser-Blatt-Bindung? Indem wir herausfinden, was unsere Leser für relevant halten und ihnen dann genau diese Inhalte liefern. Das Testobjekt: die eigene Zeitung. Die Augsburger Allgemeine hat aber nicht einfach nur ein paar Leute gefragt, welche Artikel ihnen besonders gefallen haben und aus welchen Gründen. Wie einige andere Redaktionen in Deutschland ließ die Zeitung das Leseverhalten mit der Technik „Reader Scan“ ermitteln. In einem Zeitraum von zwei bis drei Wochen wurden etwa 200 Probanden mit kleinen Scannern ausgestattet. Damit markierten sie jeden Text, den sie bewusst wahrnehmen (Beachtungsquote) und anschließend auch, bis zu welcher Zeile sie den Artikel gelesen haben (Lesequote). Daraus konnte die Redaktion letztlich erkennen, welche Artikel besonders oft und bis zum Schluss gelesen wurden. Auch wenn ein Leser an einem Tag gar keine Zeitung liest, wurde das festgestellt.
Herausgekommen sind die folgenden Erkenntnisse: Der Leser ist wählerisch, er reagiert selbst auf Kleinigkeiten wie Wortwiederholungen, schlechte Bildwahl und zu lange Zitate oder Absätze. Er lässt sich aber auch begeistern und interessiert sich für kommunalpolitische Themen, sofern sie spannend und ansprechend umgesetzt sind. Wo im Blatt die Geschichte steht, ist nicht ausschlaggebend – originell muss sie dafür sein. Doch auch allzu kreative Überschriften bergen eine Gefahr, denn sobald etwas unverständlich ist, verliert der Artikel seinen Reiz.
In die Lesernähe zu investieren ist für Bürzle eine essentielle Aufgabe der Redaktion: „Lesernähe ist keine Floskel, sondern eine Überlebensfrage der Regionalzeitung. Sie ist der Schlüssel zur Zukunft“, fasst er seine Erkenntnisse des Reader Scans zusammen.
Entscheidend sei die Perspektive, die der Journalist für seine Geschichte wählt. Texte, die es schaffen, Emotionen zu wecken, werden besonders gern gelesen. Ist das Thema ein aktuelles, das den Lesern in ihrem Alltag ständig begegnet und dessen Entwicklung sie interessiert, wie zum Beispiel Wohnen, Verkehr oder Stadtentwicklung? Und schließlich liegt es an der Umsetzung, ob der Leser hängen bleibt.
Dafür rät Bürzle, sich selbst zu fragen, „was ist neu an der Geschichte, wie kann ich sie personalisieren und was ist die Kernaussage?“ Gerade bei Themen, die zunächst kompliziert oder gar langweilig erscheinen, schätze der Leser Kommentare, eine Einordnung, Erklärungen zum Hintergrund der Geschichte, erklärt der Journalist.
Ja, der Leser ist ein sensibles Wesen. Dennoch ermutigt Marcus Bürzle die Teilnehmer des Modellseminars, sich von den Erkenntnissen nicht entmutigen zu lassen, sondern diese zu nutzen: „Jeder will Geschichten erzählt bekommen. Wir müssen uns nur genau daran orientieren und nicht an uns selbst.“