Hier fand Austausch statt: Im ersten Praxisgespräch ging es um radikale Herausforderungen im lokaljournalistischen Feld. (Bild: Marcus Klose/drehscheibe)
Im ersten Praxisgespräch des Forums ging es um die journalistische Auseinandersetzung mit Extremismus: „Extrem! Selbstbehauptung im radikalen Umfeld“, so lautete der Titel. Es diskutierten Prof. Dr. Oliver Decker, Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung Kredo an der Universität Leipzig, Mareike Makosch, Psychologin und Journalistin aus Hamburg, und Tobias Wolf, Landeskorrespondent der Freie Presse. Die Moderation übernahm Grit Baldauf, Regionalleiterin Mittelsachsen der Freie Presse, Chemnitz.
Zunehmend extremistische Einstellungen
In dem Gespräch ging es zunächst um eine Art Bestandsaufnahme. Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert? Haben extremistische Einstellungen zugenommen? Wolf meinte, seit der Flüchtlingswelle 2015 und den Corona-Demonstrationen habe es eine „Verschiebung in der Dimension“ gegeben. „Extremismus ist nicht immer gleich eine Terrorzelle“, betonte er.
Decker, der sich insbesondere auf die Leipziger Mitte-Studie bezog, sprach vom „Politischwerden der Ressentiments“. Es lasse sich nicht unbedingt eine Zunahme extremer Einstellungen in der Gesellschaft beobachten. Die Lage sei „stabil“: Es gebe nach wie vor rund 30 Prozent Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen, „im Osten eher mehr, im Westen etwas weniger“. Aber die Menschen mit solchen Einstellungen setzten diese nun eher in die Tat um, indem sie beispielsweise AfD wählten. Decker erinnerte auch an die „Baseballschläger-Jahre“ – wie die 90er-Jahre mit ihren Wellen gewalttätiger Angriffe auf Zuwanderer und Flüchtlinge genannt werden. „Die Befragten glaubten damals, sie würden den Volkswillen umsetzen“, erzählte Decker. „Und sie hatten nicht ganz Unrecht damit, denn die Stimmung in Bevölkerung war durchaus ressentimentgeladen.“
Dafür, dass das feindselige Klima entstehen konnte, macht Decker den Neoliberalismus verantwortlich, der für viele Menschen seit der Wiedervereinigung finanzielle Unsicherheiten mit sich brachte. Existenzielle Sorgen sind laut der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024, die Decker leitete, ein Haupttreiber rechtsextremen Gedankenguts.
Die journalistische Auseinandersetzung mit Extremismus auf Demonstrationen
Auch Makosch machte erheblich Veränderungen aus, mit Folgen insbesondere auch für den Journalismus. „Früher hat man Praktikanten und Volontäre auf Demos geschickt. Heute muss man als Pressevertreter damit rechnen, dass man sich dort für seine Arbeit rechtfertigen muss. Sogar im privaten Bereich wird man auf die Rolle als Journalist angesprochen und kritisiert.“ Die einen meinten, man kritisiere die AfD zu wenig, die anderen, sie käme nicht zu Wort. Makosch räumte aber ein: „Auch als Journalist geht man oft schon mit vorgefasster Meinung und einer gewissen Erwartung auf Demos.“
Dem entgegnete Wolf, für ihn komme es auf einer Demonstration in Sachsen eher darauf an, unsichtbar zu sein, „weil man sonst angepöbelt wird oder mehr“. Er habe sich angewöhnt, vorab „die Lage zu checken“ und mögliche Fluchtwege im Auge zu haben. Wolf betonte: „Man muss sich vorbereiten.“ Er sprach auch von einer „depressiven Verstimmung“, die ihn hin und wieder erfasse, wenn er zu viele Demos als Reporter besuche.
Wie also mit bedrohlichen Situationen umgehen? Makosch schlug eine Herangehensweise vor, bei der es darum gehe, in der Auseinandersetzung mit anderen zunächst Gemeinsamkeiten aufzuspüren und Verständnis zu entwickeln. Man solle eher fragen: Was ist denn deine Sorge? „Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was wir den Menschen zumuten“, meinte sie. Journalistinnen und Journalisten, die sich inhaltlich täglich mit Extremismus befassen, riet sie: „Unsere Identität steht auf mehreren Säulen. Wir sollten nicht alles nur an den Beruf knüpfen. Man muss auch mal einen Cut machen.“
Für Glaubwürdigkeit stehen: Es geht darum, Gesicht zu zeigen
Im weiteren Gespräch ging es viel um das Gesichtzeigen bzw. um das Gesichtsvertrauen, wie der Soziologe Niklas Luhmann das laut Decker genannt hat: Also darum, Glaubwürdigkeit zu gewinnen durch körperliche Präsenz, etwa an Infoständen, bei Diskussionen oder anderen öffentlichen Veranstaltungen etc. (Siehe dazu auch unseren Beitrag „Speed-Dating mit der Leserschaft“.) So könne man einem verbreiteten Medienmisstrauen entgegenwirken.
Zum drehscheibe-Interview mit Tobias Wolf