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Praxisgespräch 2: Listening und Dialog im Lokaljournalismus

Oliver Haustein-Teßmer, Chief Transformation Officer der Neuen Pressegesellschaft (Ulm) weiß, worauf es beim Dialog im Lokaljournalismus ankommt. (Foto: Marcus Klose/drehscheibe)

Oliver Haustein-Teßmer, Chief Transformation Officer der Neuen Pressegesellschaft (Ulm) weiß, worauf es beim Dialog im Lokaljournalismus ankommt. (Foto: Marcus Klose/drehscheibe)

Journalistinnen und Journalisten müssen wieder mehr zuhören: Ihrer Leserschaft, den Bürgerinnen und Bürgern, den Mitmenschen. Das fordert Oliver Haustein-Teßmer, Chief Transformation Officer der Neuen Pressegesellschaft (Ulm) und Mitglied der Geschäftsleitung der NPG Digital GmbH. Im Praxisgespräch „Listening und Dialog im Lokaljournalismus“ stellt er zehn Schritte vor, wie das gelingen kann.

Seine zehn Leitlinien basieren auf einem Forschungsprojekt, das der ehemalige Chefredakteur der Lausitzer Rundschau (LR) und Märkischen Oderzeitung (MOZ) im Rahmen des Executive Programs 2023/2024 an der Craig Newmark Graduate School of Journalism der City University of New York erarbeitet hat.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich immer weniger Menschen für Journalismus interessieren und diverse Gruppen, etwa migrantische Communitys, in der Berichterstattung außen vor bleiben. Eine Lösung bietet seiner Meinung nach der Engaged Journalism, der in den USA bereits seit Jahrzehnten praktiziert wird.

„Der Lokaljournalismus selbst muss zum Thema werden.“

Oliver Haustein-Teßmer, Chief Transformation Officer der Neuen Pressegesellschaft (Ulm)

Bei diesem Ansatz kommen die Fragen und Themen verstärkt aus der Bevölkerung. Ein Beispiel ist „The Citizen Agenda” aus Boston. Im Zuge der dortigen Bürgermeisterwahl traten Lokalmedien verstärkt mit marginalisierten Gruppen in Kontakt, die nicht vorhatten zu wählen, und machten deren Anliegen sichtbar.

Doch auch hierzulande sei der Trend zu mehr Listening und Dialog im Lokaljournalismus zu beobachten, sagte Haustein-Teßmer. Beispiele dafür seien das preisgekrönte Format „Chemnitz spricht“ von der Freien Presse (Deutscher Lokaljournalistenpreis 2018), sowie der Bürger-Dialog, der im Rahmen des Forums Lokaljournalismus in Chemnitz stattfand (Siehe unser Artikel „Speed-Dating mit der Leserschaft“). „In diesen Formaten ist der Journalismus selbst das Thema“, sagte Haustein-Teßmer. In einer schnellen Umfrage zeigte sich im Praxisgespräch, dass viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits Listening und Dialog ausprobiert haben. Nur ein geringer Anteil setzt diese Methoden jedoch regelmäßig ein.

Zuhören und Dialog im Lokaljournalismus: In zehn Schritten zum Erfolg

1. Durch eine Mission wird der Mehrwert für die Zielgruppen klar.

„Es ist wichtig zu wissen, wer man ist und was man erreichen will“, sagte Haustein-Teßmer. Das Bewusstsein für das Ziel der eigenen Arbeit könne durch ein konkretes Projekt gefestigt werden. Ein Beispiel sei der Wahlkompass für die Landtagswahlen 2024 der LR und MOZ.

2. Die Bedürfnisse diverser Zielgruppen respektieren

Im Rahmen der Berichterstattung zur Wahl in Brandenburg veranstaltete die LR vor der Wahl zwei interne halbtätige Reflexions-Workshops. Zunächst ging es dabei um die Frage: Wie sah unsere Wahlberichtserstattung bisher aus? Üblicherweise wurden Kandidatinnen und Kandidaten in den Mittelpunkt gestellt, den Parteien eine Bühne geboten, Meinungen eingesammelt und die eigenen Abonnentinnen und Abonnenten zu Foren und Vor-Ort-Veranstaltungen eingeladen.

Die Redaktion entschied sich dazu, Leserinnen und Lesern und ihren Fragen an die Politik Raum zu geben, gezielt bestehende und neue Zielgruppen zu ihren Themen zu befragen und zum Dialog einzuladen sowie mehr Menschen für politische Information und Journalismus zu interessieren. Durch diese Herangehensweise seien neue Perspektiven und mehr Diversität in die Berichterstattung gekommen – und das Zuhören sei in den Mittelpunkt gerückt.

3. Produkte und Arbeitsmittel müssen einfach nutzbar sein

Ein Handy mit Pocket-Mikrofon anstelle eines komplizierten Aufnahmegeräts: Die technische Ausstattung muss schnell und einfach zu bedienen sein, damit die Aufmerksamkeit ganz dem Gegenüber gelten kann.

4. Die schnelle Story steht nicht im Vordergrund. Zuhören steht an erster Stelle.

„Wir müssen weg vom Helikopter-Journalismus kommen, bei dem man schnell hinfährt, einen O-Ton einfängt und wieder weg ist“, sagte Haustein-Teßmer. Inspiration liefert der preisgekrönter Journalist, Forscher und Community-Organisator Shirish Kulkarni mit seinem Projekt „News for All“ der BBC.

Im Rahmen des Wahlkompasses lud die MOZ verschiedene Gruppen zu Gesprächsrunden ein. Dazu gehörten Studierende, Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Migrationsgeschichte und Vertreter von Sportvereinen. Ihre Themen und Anliegen wurden nicht nur in der Berichterstattung verwertet. Auch die Landtagskandidatinnen und -kandidaten wurden mit ihnen konfrontiert.

5. Immer wieder erklären: Warum macht die Redaktion das?

Auch nach außen müssten Redaktionen ihr Vorgehen ihrem Publikum immer wieder erklären. So fügte die MOZ bei jedem Online-Beitrag zum Wahlkompass eine Infobox ein, die das Projekt und seine Intention erklärte.  

6. Unbequeme Dialoge aushalten: Es geht um guten Journalismus

„Wenn man mehr Menschen erreichen möchte, muss man auch unangenehme Gespräche aushalten“, sagte Haustein-Teßmer. In Dialog-Formaten könne es viel Kritik und Negativität geben. Sie seien aber auch eine gute Möglichkeit, nach Lösungsvorschlägen zu fragen.   

7. Unternehmenserfolge messen: Neue Perspektiven und ihre Wirkungen auswerten

 Um eine Strategie nachhaltig erfolgreich umsetzen zu können, muss die eigene Arbeit immer wieder evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden.

8. Journalistinnen und Journalisten können aktives Zuhören und Moderation trainieren

Gutes Zuhören braucht Übung. Um üben zu können, braucht es viele Gelegenheiten, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. So können neue Kommunikationstechniken ausprobiert und bewährte verfeinert werden.

9. Redaktionen sollten sich Unterstützung suchen und kooperieren.

Um Zugang zu Gruppen und Communitys zu erhalten, empfehle es sich, „Gatekeeper“ zu suchen. Also Personen, die in der Gruppe Ansehen und Vertrauen genießen und gut vernetzt sind, wie etwa der Vorstand eines Vereins.

10. Künstliche Intelligenz kann Assistieren

Haustein-Teßmer regte an, KIs wie Aureka.ai zu verwenden – etwa zur Transkription von Audioaufnahmen, zur Analyse von Dialogen oder zur Identifizierung relevanter Texte und Audiobeiträge für Storys.

Auch bei den Wahl-Dialogen arbeitete die Redaktion mit KI. So konnten Ergebnisse in Diagrammen veranschaulicht und gute Zitate schneller gefunden werden. „Wir profitieren heute noch von dem Wahl-Projekt.“, sagt Haustein-Teßmer. „Wir stehen immer noch im Kontakt mit Gruppen, haben viele Themen präsenter.“

Praktische Anwendung anhand verschiedener Themen

In einer nächsten Umfrage im Praxisgespräch wurden Ideen gesammelt, für welche Themen sich Listening und Dialog im Lokaljournalismus eignen. Aus der Runde wurden vor allem die Themen Stadtentwicklung, Migration und Infrastruktur genannt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen in Kleingruppen zusammen und reflektierten zu ihrem jeweiligen Thema: Wie läuft die Berichterstattung in der Regel ab? Was ändern wir? Was ist der Mehrwert?

Im Praxisgespräch mit Oliver Haustein-Teßmer wurde diskutiert, wie Dialog im Lokaljournalismus gelingen kann. (Foto: Marcus Klose/drehscheibe)

Die Berichterstattung über die Stadtteile bewegte eine Arbeitsgruppe. Häufig berichte man aus dem Rat und führe Gespräche mit den „Offiziellen“. „Wir wollen wieder die mehr Lebenswirklichkeit zeigen“, hieß es aus der Gruppe. Konkret: Zu Treffpunkten oder ins Gasthaus gehen, mit dem Personal der Bäckerei sprechen oder an Haustüren klingeln.

Ein Teilnehmer regte an, Stadtteilidentitäten in den Blick zu nehmen: „Warum wohne ich seit 70 Jahren in diesem Stadtteil? Was habe ich hier erlebt?“ Ebenso könne man Menschen mit Vorurteilen über den Stadtteil konfrontieren. Als Redaktion sollte man aber auch die eigenen Vorurteile gegenüber den Stadtteilen reflektieren.

Neue Formate finden, um das Thema Verkehr aufzugreifen

Eine andere Gruppe beschäftigte das Thema Verkehr. Dieses werde häufig von Blaulichtmeldungen, Staumeldern und einer Politik-getriebenen Berichterstattung mit Unfallstatistiken dominiert. Die Gruppe schlug neue Formate wie einen WhatsApp-Kanal vor, über den Menschen Sprachnachrichten schicken können, einen Live-Chat mit Experten oder Gespräche an Orten, die oft Verkehrsprobleme machen.

Die Gruppe zum Thema Migration stellte zunächst fest, dass das Thema sehr polarisierend sei und oft voreilige Rückschlüsse gezogen würden. Außerdem würde das Thema vor allem über Daten und Statistiken behandelt. Stattdessen sollte ein „langer Atem“ bewiesen werden. Redaktionen sollten nicht sofort bewerten, sondern eine moderierende Rolle einnehmen.

Thema Wohnen: Konstruktiv berichten und Positivbeispiele nennen

Relevant war auch Wohnen, dem sich eine Gruppe widmete. Bei diesem Thema würde häufig der Ist-Zustand abgebildet („Darum findet diese Leipziger Familie seit Jahren keine 4-Zimmer-Wohnung“). Stattdessen sollte die Redaktion konstruktiv vorgehen, z.B. Positivbeispiele genannt werden. In Foren und bei Stammtischen sollten konkrete Forderungen an die Baupolitik erarbeitet und anschließend den Entscheidungsträgern vorgelegt werden.

Dialog im Lokaljournalismus: Es braucht Empathie, Geduld und Konfliktfähigkeit

In einer Umfrage beantworteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Frage, welche Fähigkeiten benötigen werden, um Gespräche angemessen zu moderieren. Besonders Empathie, Geduld und Freundlichkeit wurden dabei genannt, aber auch Konfliktfähigkeit, Interventionsbereitschaft oder: „Klappe zu, Ohren auf.“

Oliver Haustein-Teßmer empfahl, ein Regelwerk für Diskussionen aufzustellen. Die Regeln sollten zu Beginn erklärt werden und im Laufe des Gesprächs immer wieder erwähnt werden. Zudem sollten die Dauer der Veranstaltung insgesamt und die Dauer von Redebeiträgen festgelegt und eingehalten werden. Nicht zu unterschätzen sei außerdem die „Manpower“, etwa wenn es darum geht, parallel Fakten zu checken und falsche Behauptungen zu entlarven.

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