Forum, Interview

Bruce Shapiro über die Aufgaben des Lokaljournalismus nach Krisensituationen

Heute beim Forum Lokaljournalismus um 17.30 Uhr: Podiumsdiskussion zum Thema „Sündenfall Winnenden – oder was ist mit der journalistischen Ethik in der Praxis“. Mit dabei: Bruce Shapiro, Direktor des Dart Centers für Journalismus und Trauma. Er findet:

„So ein Ereignis passiert nicht einfach und kann dann für die Vergangenheit abgehakt werden. Die ganze Gemeinde erleidet ein Langzeittrauma, das sich auf ganz unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Graden der Betroffenheit offenbart. Manchmal ist die lokale Presse die einzige vertrauenswürdige Informationsquelle. Das ist eine große Verantwortung. Journalisten können helfen und beeinflussen, wie die Menschen das Trauma und die eigenen Heilungsperspektiven wahrnehmen. Zunächst müssen Journalisten akzeptieren, dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess und kein einmaliges Ereignis handelt. Sie müssen ein sensibles Gespür für diesen Prozess entwickeln. Es ist normal, wenn sich besonders unmittelbar Betroffene isoliert fühlen, wenn sie traurig sind und oft eben auch sehr wütend. Wenn das eigene Kind in der Schule erschossen wird, verlieren viele Eltern das Vertrauen in die Gesellschaft. In jenen sozialen Vertrag, der uns eigentlich garantieren soll, dass wir in einem sicheren Land leben und dass Schulen sichere Orte sind. Wenn dieser Vertrag durch einen Amoklauf gebrochen wird, dann bricht nicht nur das Familienleben, sondern auch das gesellschaftliche Vertrauen zusammen.  Aber auch die Angehörigen, die ihr Kind verloren haben, gehen trotz dieses nicht zu kompensierenden Verlustes durch einen Prozess der seelischen Heilung. Journalisten können diesen Prozess positiv begleiten, indem sie diesen Menschen eine Stimme geben. Indem sie helfen, zu vermitteln zwischen jenen, die sich schwertun, weiterzuleben, und jenen, die schon längst nichts mehr von dem Schulmassaker wissen wollen.  Wenn einige Zeit verstrichen ist, beispielsweise am ersten Jahrestag, können Journalisten erinnern. Nicht, indem sie die Vergangenheit zurückholen, sondern indem sie aufzeigen, wie sich die Situation entwickelt hat und was momentan für den Heilungsprozess von Einzelnen oder der gesamten Gemeinde wichtig ist. Dabei kann es aber nie eine pauschale Herangehensweise geben, denn jeder Betroffene hat seine ganz eigene Art und Zeit, mit dem Erlebten umzugehen. Es geht immer um die Frage, welche Geschichte wann und wie erzählt werden kann. Dabei müssen Journalisten immer wieder ihr Gewissen befragen und auch über die eigenen Gefühle reflektieren.“