Die Geschichten, um die es im Panel „Recherche brutal“ ging, fingen alle mit „B“ an: Die Bamberger Boni-Affäre, aufgedeckt durch den Fränkischen Tag, vertreten durch Chefredakteur Boris Hächler, „Betäubt, missbraucht, im Stich gelassen“ von Lena Heising, Redakteurin des Kölner Stadt-Anzeigers, und der „Bautzen-Report“ von Ulrich Wolf, Reporter der Sächsischen Zeitung. Moderiert wurde das Panel zum Thema Investigativjournalismus im Lokalen von Marc Rath, Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung, der abschließend sein Projekt „Wem gehört Lüneburg?“ aus seiner Zeit bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide vorstellte. (Foto: Marcus Klose, drehscheibe)
Ein Report, 270 Leserbriefe
Den Auftakt machte Ulrich Wolf. „Vor 37 Jahren war ich in diesem Raum und habe Recherche studiert“, erinnerte er sich. In der Abschlussprüfung habe er eine Vier bekommen, wegen Liebeskummer. Heute sind zeitintensive und komplexe Recherchen sein Spezialgebiet. Für seine dreiteilige Serie „Bautzen-Report“ (April 2019) wurde er mit dem 2. Preis des Otto-Brenner-Preises 2019 ausgezeichnet. Ein halbes Jahr lang recherchierte Wolf, wie wenige, aber einflussreiche Akteure in Bautzen den öffentlichen Diskurs weit nach rechts verschoben haben. Innerhalb weniger Monate war Wolf an die zwölf Mal in der ostsächsischen Kreisstadt. Am Ende seiner Recherchen hatte er ein Dossier von mehr als 200 Seiten. „Dieses Dossier war die Basis für die spätere Veröffentlichung.“ Nach der Veröffentlichung erhielt die Zeitung 270 Leserbriefe. „Drei Viertel davon waren negativ“, sagte Wolf. Im Anschluss fragte Julia Back von der Main-Post, ob er angesichts der vielen negativen Reaktionen überlegt habe, ob er anders hätte handeln sollen. „Nein“, war die klare Antwort von Wolf. „Alle Akteure hatten die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern.“ Inzwischen übernimmt Wolf nur noch Recherchedienste für seine Kolleginnen und Kollegen in der Lokalredaktion. „Ich schaffe es nicht mehr, die Adler-Perspektive zu wahren, und die braucht man als Reporter.“, sagte Wolf.
Ein Skandal, ein Recherche-Team
„Zu diesem Beitrag kann man nicht nichts sagen“. So wurde der 3. Preis des Deutschen Lokaljournalistenpreises 2022 der Konrad-Adenauer-Stiftung eingeleitet, und so leitete auch Marc Rath die Vorstellung der nächsten Referentin ein: Preisträgerin und Reporterin des Kölner Stadt-Anzeigers, Lena Heising. In ihrer Reportage (Oktober 2022) schildert Heising, wie ein Assistenzarzt im Bielefelder Klinikum Bethel mehrere Patientinnen betäubte, vergewaltigte und sich dabei filmte. Nach seiner Verhaftung beging er Selbstmord. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt, ohne dass die Opfer informiert wurden, weder über das, was ihnen angetan worden war, noch über die Geschlechtskrankheiten, die der Arzt hatte – ein unfassbarer Klinik- und Justizskandal. Die Recherchen entstanden in Zusammenarbeit mit Simone Brannahl und dem ARD-Magazin „Kontraste“. Als Heising bereits Mitten in den Nachforschungen war, reif Brannahl sie an und erzählte ihr, dass auch sie an der Geschichte dran sei. Heising besprach sich mit ihrer Chefin und stimmte einer Zusammenarbeit zu. Ein besonderer Moment: „Man vertraut sich einer Person an, die man gar nicht kennt“, erzählte Heising. Doch die Kooperation sei eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten gewesen. „Je umfangreicher die Berichterstattung, desto schwieriger ist es für die Konfrontierten, sich dem entgegen zu setzen.“, sagte Heising.
Eine Affäre, zwei Jahre Berichterstattung
Es dürfte nicht viele vorbestrafte amtierende Oberbürgermeister geben, in der unterfränkischen Weltkulturerbestadt Bamberg gibt es ihn: Andreas Starke. Mit dieser Einleitung übergab Marc Rath das Wort an Boris Hächler. Seine Redaktion vom Fränkischen Tag deckte die sogenannte Bamberger Boni-Affäre auf. Die Stadt hatte mit öffentlichen Geldern Verwaltungsangestellten, Tarifbeschäftigten und Beamten Überstunden und Zulagen gezahlt, ohne dass dafür eine rechtliche Grundlage bestand. Das entsprechende belastende, interne Dokument hatte ein Whistleblower dem Fränkischen Tag zugespielt. Im Dezember 2020 erschien der erste Artikel, im Juli 2022 erließ die Staatsanwaltschaft Hof Strafbefehle gegen den Oberbürgermeister und drei weitere Mitarbeiter. Über zwei Jahre berichtete der Fränkischen Tag in 75 Artikeln und 30 Kommentaren und Glossen über die Affäre. „Hartnäckigkeit ist das Stichwort“, sagte Hächler. In dieser Zeit hätten seine Kollegen viel Gegenwind bekommen. Aus dem Rathaus aber auch aus der Stadtgesellschaft. Dirk Baldus von der Lippischen Landes-Zeitung fragte dazu, wie man Journalisten auf emotional belastende Situationen vorbereiten könne, insbesondere junge Kollegen. Hächler berichtete, dass in ihrem Fall ein sehr erfahrener und ein noch junger Kollege zusammengearbeitet hätten und beide von der Herangehensweise des anderen profitiert hätten. „Für uns war das auch ein Learning, wir müssen das in die Volo-Ausbildung integrieren“, sagte Hächler.
Eine Kampagne, eine Stadt
Zum Abschluss des Panels stellte Marc Rath das Projekt „Wem gehört Lüneburg?“ in Kooperation mit von CorrectivLokal („Wem gehört die Stadt?“) vor. Mit einer sechswöchigen Kampagne im Sommer 2019 widmete sich die Landeszeitung für die Lüneburger Heide mit Sprühkreide-Aktionen, Infoständen und Familienfesten dem großen Thema Wohnen. Die Überraschung der Leser über ihre Zeitung sei groß gewesen, berichtete Rath. „Toll, dass ihr barrierefrei mit uns redet“, hieß es. Das Beispiel zeigt: Lokaljournalismus bedeutet, rauszugehen und mit den Menschen zu reden, für die man schreibt.