"Wahl investigativ und innovativ"

„Wahlprogramm trifft auf Wirklichkeit“

Rede von Prof. Jürgen W. Falter:

Es ist unbestreitbar: Unsere Parteienlandschaft ist unübersehbarer und komplexer geworden, als sie das jahrzehntelang war. Denken wir uns einen Augenblick zurück in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Da gab es nur drei im Bundestag vertretene Kräfte, die Unionsparteien, die SPD und die FDP. Und wer gerade regierte, das hing ab von den Koalitionspräferenzen des mächtigen Züngleins an der Waage, der FDP. Das war die Zeit, als sich über 90 % der Wahlberechtigten noch an Wahlen beteiligten und als die großen Volksparteien noch tatsächlich groß waren. Sie erhielten zusammen über 90 % der Wählerstimmen und wurden von gut vier Fünftel aller Wahlberechtigten unterstützt. Heute sind sechs Parteien oder fünf politische Kräfte im Bundestag vertreten, nach Lage der Dinge werden es ab 2017 sogar sieben Parteien sein, weil die AfD dazukommen dürfte. Der Stimmenanteil der großen Volksparteien ist merklich geschrumpft, auch wenn er bei der letzten Bundestagswahl noch bei fast zwei Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen lag. In der Zwischenzeit müssen CDU/CSU und SPD darum bangen, gemeinsam überhaupt noch eine Wählermehrheit auf sich zu vereinen. Was ihre Verankerung in der Wählerschaft insgesamt angeht, sieht es geradezu dramatisch aus. Waren es wie gezeigt in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts deutlich über 80 % aller Wahlberechtigten, die ihnen die Stimme gaben, so sind es 2013 noch nicht einmal mehr 50 % gewesen – mit sichtlich weiter sinkender Tendenz: Wären heute Bundestagswahlen, und läge die Wahlbeteiligung in etwa so hoch wie bei der letzten Wahl, also knapp über 70 %, dann würden die ehemals so stolzen Volksparteien nur noch von knapp 38 % aller Wahlberechtigten die Stimme erhalten. Nichts beschreibt deutlicher die Veränderungen unserer politischen Landschaft als diese doch ziemlich deprimierenden Zahlen.

Ich möchte im Folgenden zunächst fragen, wie diese Veränderungen zustande kamen, was ihre Ursachen sind, bevor ich mich Gegenwart und Zukunft zuwende. Hierauf gibt es mehrere Antworten.

  1. Begleitet wurde und wird diese Entwicklung von größeren, geradezu tektonischen Verschiebungen in der Gesellschaft: Säkularisierung, Individualisierung, Globalisierung und Europäisierung sind die dafür stehenden Schlagworte. Diese ineinandergreifenden und sich teilweise überlagernden Prozesse führten zu einem Abschmelzen der alten soziopolitischen Milieus (des katholisch-ländlichen bzw. –kleinstädtischen Milieus und des gewerkschaftlich-großindustriellen Arbeitermilieus). Dies wiederum führte zu einem tendenziellen Rückgang der festen Parteibindungen, einem Ansteigen der (potentiellen) Wechselwähler und einem Rückgang der Wahlbeteiligung, vor allem bei Nebenwahlen. Denkbar günstige Situation für die Etablierung einer neuen Partei, vor allem, wenn sie am Rand des politischen Spektrums angesiedelt ist. Macht Wahlvoraussagen riskanter, die Regierungsbildung sehr viel schwieriger; der Zwang zu Großen Koalitionen oder Dreierkoalitionen oder – vor allem auf der Ebene der Länder und Kommunen – zu Minderheitsregierunge