Benjamin Piel ist Redaktionsleiter der Elbe-Jeetzel-Zeitung. Für das Modellseminar „Rock das Rathaus“ in Augsburg hat er folgende Thesen zur kommunalpolitischen Berichterstattung erstellt.
1.These: Wir reden im Lokaljournalismus viel von Geschichten, aber tatsächlich erzählen wir viel zu selten welche.
Deshalb die Frage: Was ist eigentlich eine Geschichte?
– Aristoteles „Poetik“: Ort, Zeit, Handlung und zusätzlich Personal
– Übertragen auf die journalistische Geschichte: Eine Geschichte ist eine Geschichte, wenn sie das Handeln (= Aktion!) eines oder einer überschaubaren Mehrzahl von Menschen an einem Ort über einen gewissen Zeitraum erzählt.
– Daraus folgt: Sie müssen die Redaktion verlassen, sonst wird es mit dem Erzählen von Geschichten schwer, je mehr Sie von der später zu erzählenden Handlung mitbekommen, desto besser
2. Warum eigentlich Geschichten? Reicht nicht auch ein Bericht aus Zahlen, Daten, Fakten?
– Es geht im Lokaljournalismus immer mehr darum, die knappe Aufmerksamkeit zu bekommen, um eine gute Quote, zu packen, zu begeistern, zu interessieren, herauszustechen aus der Masse der miteinander konkurrierenden Informationen oder anders gesagt: nicht zu langweilen! Auf diese Forderung ist die Geschichte mediumneutral eine Antwort.
– Eine gut erzählte Geschichte macht eigentlich Abstraktes nachfühl- und nachvollziehbar, greif- und verstehbar. Die Geschichte ist wesentlich erinnerbarer als reine Fakten, sie bleibt haften, sie berührt und vermittelt gleichzeitig Wissen, vermittelt im Konkreten und durch Konkretes das Abstrakte, sie ist eingängig im besten Sinne.
– Die Geschichte ist im Gegensatz zum Bericht/zur Nachricht personal, konkret, exemplarisch, szenisch, sinnlich, prozesshaft durch eine Handlung, dynamisch, perspektivisch, fokussiert, Nähe fördernd, Zugänge ermöglichend
– Denn: Eingängig ist nicht flach, sondern Pflicht.
3. Wie entwickelt man eine Geschichte (anhand der Mini-Reportage „Freunde bis ins Grab“, Elbe-Jeetzel-Zeitung)
– Eine Geschichte entsteht so gut wie nie durch Zufall, sondern durch gute Vorbereitung und durch intensive Vorüberlegungen und Planung
– Dreischritt: Vom Dokumentarisch-Chronostischen („Die Bestattungen im Friedwald sind im vergangenen Jahr um 30 Prozent angestiegen“) zum Thema („Der Friedwald als beliebte Bestattungsart“) zur Geschichte („Freunde bis ins Grab“)
– Es gibt tausend Themen in der Welt (hier: Bestattung, Sepulkralkultur, Freundschaft, Vorsorge, Waldbestattung, Umgang mit Tod und Trauer, Trost), jedes Thema für sich betrachtet ließe sich auf jeweils hundert Weisen angehen und jedes Thema ist für sich betrachtet abstrakt.
– Die Geschichte entsteht durch den Fokus, durch den hindurch die Geschichte erzählt wird (hier: Drei Frauen haben sich ihre gemeinsame Grabstelle reserviert)
– Der Fokus ist vorab gut zu durchdenken, er ist gezielt auszuwählen und möglichst diszipliniert beizubehalten
– Der Fokus springt innerhalb der Geschichte zwischen dem sehr nahen Fokus auf der Suche der drei Frauen nach dem Baum (Konkretes) und dem etwas weiter gefassten und faktischeren Fokus auf der Motivation der Frauen und ihrem Leben/Verhältnis zum Tod (Abstraktion), noch weiter entfernter Fokus wäre als Metaebene oder zweite Leseebene denkbar (Infokasten: Zahlen zur Waldbestattung / Zahlen zur Vorsorge)
– das macht das scheinbar unnahbare und unpopuläre Thema Vorsorge für den Todesfall nahbar, erinnerbar, angenehm
– Die Geschichte bauen: a) Sie haben ein Thema (Frauenhäuser / Cannabis-Medikament) b) Sie fragen sich, was der Kern des Themas ist c) Sie fragen sich, wen dieses Thema betreffen könnte d) Sie wählen eine Person aus, die einen besonders guten/nahbaren Zugang zu dem Thema ermöglicht (Personal begrenzen) e) Sie gehen mit der Protagonistin oder dem Protagonisten in die Aktion (an den Ort des Geschehens, in seine/ihre Wohnung, jedenfalls raus aus der Redaktion)
– Entwickeln Sie einen klaren Anfang (die Frauen kommen zum Friedhof) und einen klaren Schluss (die Frauen gehen zurück zum Auto) bevor Sie zu schreiben beginnen. Das erleichtert, dass sich zwischen diesen beiden Polen natürlich eine Dramaturgie aufspannen kann wie ein Faden (Sie kommen, suchen nach ihrem Grab, finden es nicht, suchen weiter, finden den Baum, schauen ihn sich an, erfreuen sich daran, fahren nach Hause – eingeschoben: abstraktere Elemente, die die Handlung verlassen).