Horst Seidenfaden, Chefredakteur bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine (HNA) in Kassel, ist ein Veteran des Lokaljournalismus. Auf zahlreichen bpb-Foren hat er den Wandel der Branche begleitet und kommentiert. Mit einem herausfordernden Grinsen, perfekt sitzendem Jackett und schlohweißem Haar betritt er an diesem Morgen die Bühne. Sein Redemanuskript besteht lediglich aus ein paar zusammengekritzelten Notizen. Er braucht sie nicht. Seinen Appell hat er verinnerlicht.
„Mut ist für mich Mut zur Veränderung.“ Und in den letzten 20 Jahren hat sich bei Lokalzeitungen viel verändert. Die Optik ist neu, aber auch Darstellungsformen und Konzepte. Über Ratssitzungen wird heute lebendiger berichtet als noch 1996. Aber auch besser? Eine schwierige Frage. „Alles was für tun beruht zu 95% auf Berufserfahrung, Lebenserfahrung und journalistischem Instinkt“, sagt Seidenfaden. Gerade in Print sind Erfolg und Misserfolg schwer zu erkennen. Rückmeldungen gibt es nur wenige, und Leserforschung ist teuer – und hat sich auch erst in den letzten Jahren etabliert. „Ich kenne keine Branche, in der auf Marktanalyse so konsequent verzichtet wird wie in der Zeitungsbranche.“ Dies liege daran, dass die Verlagsbranche über Jahrzehnte hinweg über unglaubliche Umsatzrenditen verfügte. Sie hat sich ein wertvolles Informationsmonopol aufgebaut, konnte „Geld zum Fenster rauswerfen“. Früher habe man keine Maßstäbe für Qualität gebraucht, das Geld kam einfach so rein, resümiert Seidenfaden.
Stattdessen habe man sich „besoffen gequatscht über die Frage, was Qualitätsjournalismus wirklich ist“. Aber darauf komme es nicht in erster Linie an. Sondern darauf, was relevant ist für die Leserinnen und Leser. Dass diese Frage lange ignoriert wurde, hatte Folgen. „Wir sind in einer Krise. Das sollten wir beim Namen nennen und akzeptieren.“ Medienhäusern bewältigen diese auf unterschiedlichste Weise. In den einen arbeiten Redakteure und Geschäftsführung eng zusammen, um neue Konzepte zu entwickeln. Viele versuchten jedoch, die Krise betriebswirtschaftlich zu lösen. Und dieser Blick ist kompromisslos: Wo Anzeigenerläöse zurückgehen, reichen die Aboerlöse meist nicht aus, um die Verluste auszugleichen. Es wird geschaut, welche Abteilung kein eigenes Geld erwirtschaftet. „Und dann landet man schnell bei der Redaktion.“Aber heißen Kostenreduzierung, Budgekürzung automatisch, dass in der Redaktion Löhne gekürzt werden? In der Praxis werde es jedenfalls oft so gehandhabt. Seidenfaden berichtet von Großstadtlokalredaktionen, die mit fünf Personen besetzt sind – und bei denen der Stellenabbau immer noch nicht abgeschlossen ist. Für den Nachwuchs stehe es schlecht. Jungredakterure würden nach 13 Jahren Schule, vielen Jahren Praktika und zwei Jahren Volontariat oft nur 2400 Brutto bekommen, wenn überhaupt. Bei der HNA sei es zwar mehr. Dennoch fehle es in der Branche allgemein an Wertschätzung.
Doch statt Löhne zu kürzen, hilft es, Produkte zu generieren, für die die Zielgruppe zu zahlen bereit ist. „1996 haben wir ernsthaft noch die romantische Vorstellung gehabt, dass unsere Zeitung alle erreicht.“ 20 Jahre später sei klar: Dies ist nicht der Fall, die Gesellschaft hat sich ausdifferenziert. Es gebe zwei Problemgruppen: Die Online-Leser, die Journalismus zu schätzen wissen, aber kostenlose Inhalte wollen, und die jungen Leute, die nie gelernt haben, für Inhalte zu bezahlen und sich auch nicht zwangsläufig über klassische Medienformate informieren. Beide Gruppen bringen keine Erlöse. „Was interessiert die jungen Leute? Wo und wie informieren sie sich? Wir wissen es nicht! Es gibt nur wenige belastbare Studien.“ Das Problem bei fundierten Studien sei auch, dass in dem Zeitraum, im dem Daten erhoben und ausgewertet werden, sich die Nutzungsgewohnheiten schon wieder verändern.
„Auch wir haben uns verändert. Wir sind bereit multimedial zu arbeiten“, immer auf Abruf zu sein. Das Einzige, das fehle, sei der Mut der Verlage, in ein Produkt zu investieren, das sich in der Krise befindet. Und hier neue Wege zu erproben. „Das Gros der Zeitungen bedient soziale Netzwerke. Aber das ist zu wenig. Wir müssen noch mehr Produkte herstellen, für noch kleinere Zielgruppen produzieren“, sagt Seidenfaden. Die Zeitung könne das. Die Westfalenpost habe etwa eine Biergarten-App entwickelt. Ein Angebot zu Schützenfesten folgte. Das sei gefragt.
Redaktionen haben Mut. „Wo ich aber den Mut vermisse, das ist in den Unternehmensführungen.“ In Sachen Bezahlung, aber auch Vernetzung. Seidenfaden zitiert: Intelligentes Klauen sei die effektivste Form der Innovation. „Wir brauchen Mut, für den Erhalt der Arbeit in unseren Redaktion. Mut für Investitionen.“