Modellseminar Kommunalpolitik 2019

Ran an die Leser!

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Ganz im Zeichen von Best Practice und der Frage: Wie kommen wir an die Leser ran? stand der Mittwochnachmittag der Seminarwoche in Potsdam Einige Stichworte aus den Vorträgen.

Jutta Pöschko-Kopp, Redaktionsleiterin der Waiblinger Kreiszeitung, stellte den „Relevanzprozess“ in ihrem Verlag vor. Stichwort: Weg vom Terminjournalismus, hin zu aktiver, selbstbestimmter Themenplanung. Grundlage für die Neuorientierung: Die Leser der Waiblinger Kreiszeitung sind im Schnitt 63 Jahre alt. Die Ausgangsfrage: Wie gewinnt man jüngere Leser?

Jutt Pöschko-Kopp

Erkenntnis zu Beginn: Die Leser haben im Allgemeinen wenig Zeit, sich mit Artikeln zu befassen. Was wollen die Leser wissen? Ganz praktische Sachen: Was tut sich in der Stadt? Wo staut sich der Verkehr? Was wird aus dieser oder jener Baustelle? Die Schlussfolgerung: Weg vom Storytelling, hin zu den Baustellen!

Zum Relevanz-Begriff: Am Anfang stand für die Waiblinger die Analyse der Menschen der Region: Was brauchen sie? Bei den Themen zählt: Relevanz (was ist wichtig), Orientierung (Warum?) und Nutzwert (Was bringt es mir?)

-Waiblingen ist eine Pendlerregion. Es gibt jeden Tag verstopfte Straßen. Ein Beispiel, wie die Redaktion darauf eingeht: die Serie „Pendlerlust, Pendlerfrust“.

-In Waiblingen herrscht ein Mangel an Wohnraum.

Die Zeitung berichtet über neue Wohngebiete, über Wohnungssuche etc., aber auch über den Frust der Anwohner von Baustellen (Stichwort Verdichtung)

-Thema: Familie

„Wir müssen die Leser da abholen, wo sie sind“, sagt Jutta Pöschko-Kopp. Themenideen: Kita-Betreuung, gefährliche Schulwege etc.

-Lifestyle/ Stadtleben

Themen rund um Einkauf, Kneipen, neue Angebote sind wichtig für die Leser. Es geht nicht um Werbung für Gaststätten oder ähnliches, sondern um interessante Geschichten.

-Weitere Themen: Gerichtsreporte, Blaulicht etc.

Redaktionelle Neuerungen, die eingeführt wurden, um die Relevanz-Erkenntnisse umzusetzen: Klausurtagung, Themenkonferenz, Institutionalisierung eines Themen-Chefs.

Fazit: „Neue Perspektiven schaffen neue Themen.“

Benjamin Huck ist Redakteur des Treuchtlinger Kuriers. Er sprach darüber, wie sich seine Zeitung aufs Wesentliche konzentriert.

Benjamin Huck

Blick zurück. Wie war es früher? Huck zitiert einen Vereinschef: „Darf ich ihnen ein Bier bringen? Ihr Kollege ist immer noch für die Brotzeit geblieben.“

Was haben sie geändert?

-Beispiel: Keine Konzert-Nachberichte mehr, sondern Vorberichte. Leser sollen nicht lesen, was sie verpasst haben.

-Ausflüge von Vereinen etc.: Darüber wird nicht mehr berichtet, es sind oft interne Vereinsveranstaltungen. Nur noch, wenn sie zum Vereinszweck gehören.

Unbesetzt bleiben des Weiteren: Weihnachtsfeiern, Sommerfeste, Mitgliederehrungen.

Termine von Vereinen werden nur wahrgenommen, wenn etwas Spannendes stattfindet.

Veränderte Vereinsberichterstattung: Vereinsfotos und kurze Texte werden nur noch in einer Online-Bildergalerie veröffentlicht. Die Vereine schicken das Material. Daraufhin gab es teilweise Beschwerden von Vereinen, aber nicht von Lesern.

Johann Stoll, Redaktionsleiter der Mindelheimer Zeitung, erläuterte, wie seine Zeitung nichtalltägliche Geschichten generiert.

Johann Stoll

Vor einigen Jahren ist die Redaktion darauf gekommen, Aktionen zu machen, um die Leute zu erreichen. Idee: Die Leute besuchen, an den Haustüren klingeln. Zum Beispiel hat sich Stoll in einer Aktion selbst bei den Menschen an der Haustür zum Kaffee eingeladen, nach dem Motto: „Hereinspaziert auf einen Kaffee.“ Die Aktion sei „super angekommen“. Anderes Beispiel: Die Redaktion hat angeboten, zu Grillfesten vorbeizukommen. Es gab 66 Einladungen mit handgeschriebenen Briefen, Gedichten, Zeichnungen usw. Daraus entstanden viele Kontakte und Geschichten.

„Wenn du rausgehst, kriegst du mit, was die Menschen bewegt“, sagt Stoll. „Man spürt auch die hohe Wertschätzung für den Lokaljournalismus.“ Stoll rät den Kolleginnen und Kollegen: „Geh zu den Menschen, rede mit den normalen Leuten.“

Er erzählt viele berührende Anekdoten und berichtet von der Freude der Leser, Journalisten kennenzulernen. „Macht das“, sagt Stoll, „vor allem wenn der Lokaljournalisten-Blues kommt und ihr meint, das habe alles keinen Sinn.“

Im Kern von Stolls Vortrag steht die Idee: normale Menschen erreichen.

Der Redaktionsleiter betont: „Man muss Konzepte entwickeln, wie man Nähe herstellt. Wie komme ich zu meinen Leuten? Die Leute sind unglaublich offen, sie nehmen sich die Zeit.  Man muss ganz normal mit ihnen reden, auch was von sich erzählen, von den Kindern etc. Es macht keinen Sinn, sie in die Redaktion zu holen, man muss zu ihnen gehen.“

Und außerdem: „Bei aller technischen Innovation bitte nicht die Nähe zu den Menschen vergessen.“

Stoll sagt: „Keine Scheu vor den Lesern, habt keine Angst vor ihnen, die sind ganz okay“. Was könnte ein besseres Schlusswort für diesen Nachmittag sein?