In seiner eindringlichen Eröffnungsrede benannte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, drei Problemfelder, die Lokalredaktionen beackern sollten, wenn sie auch in Zukunft die Nase vorhaben wollen.
Auszug aus der Rede von Thomas Krüger:
„1. Sie sollten ihr Verständnis des Lokalen hinterfragen
Gibt es den lokalen Raum eigentlich noch so, wie es ihn früher gegeben hat? Ein Medium, das „Nähe“ seit 200 Jahren zur Basis seines Erfolges gemacht hat, muss darüber nachdenken: Ist „Nähe“ noch in gleicher Weise räumlich abgegrenzt wie in den vergangenen Jahrzehnten? Darauf hat beim 19. Forum Lokaljournalismus in Waiblingen Jens Lönnecker hingewiesen – ein Gedanke, den Sie nach meiner Überzeugung bei der Diskussion über den Themenmix des Lokaljournalismus im Auge behalten sollten.
Immer mehr Menschen verbringen große Teile ihres Tages im Netz. Das ist für mich der Kern dessen, was wir begreifen müssen. Den Zugang zum Internet tragen wir per Tablet oder Smartphone ständig und überall mit uns herum. Jeden Moment können wir faszinierende Dinge abrufen und erleben, die dadurch immer mehr in unser reales Lebens einfließen. Kommunikation in Echtzeit, jeder kann seine Meinung in die Welt hinaus posaunen, sich beschweren, Antworten fordern. Aus der vermeintlichen Anonymität der eigenen digitalen Existenz heraus wächst noch der ängstlichste Zeitgenosse als Superkritiker und Wutbürgerin über sich hinaus. Wir sollten darüber nachdenken, wie die Entgrenzung der Möglichkeiten die Menschen verändert, ihr Selbstbewusstsein, ihre Anspruchshaltung – und was das für das journalistische Produkt bedeutet.
Die Wirtschaft tut das längst: Sie bekommt massiv zu spüren, was es heißt, live mit fordernden, kritischen Kunden und Kundinnen konfrontiert zu sein. Manche versuchen es mit Abschotten – doch es zeigt sich, das sich das rächt. Andere öffnen sich für den anstrengenden Dialog – bis hin zur Einbeziehung der Kundinnen und Kunden in die Produktentwicklung.
Die Politik steht im gleichen Lernprozess noch ziemlich am Anfang. Sie sieht, dass sich wieder mehr Menschen, vor allem Jugendliche, um gesellschaftliche und politische Fragen kümmern – über das Netz. 31 Prozent der in der Shell-Studie befragten Jugendlichen können sich vorstellen, sich im Internet oder über Twitter kurzfristig über Aktionen zu informieren und dort mitzumachen. Aber gerade mal 17 Prozent würden in einer Partei oder politischen Gruppe mitarbeiten wollen.
Bodo Hombach, ehemaliger Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, hat es so ausgedrückt: „Der Souverän wartet nicht mehr auf den nächsten einsamen Moment in der Wahlkabine. Er will auch unterwegs genauer wissen, wie und wohin der Hase läuft. Das ist Trend (…). Die Gesellschaft der Zukunft ist eine Dialoggesellschaft…“
Es hat wenig Sinn, das Leben im Netz kulturkritisch dem „real life“ gegenüberzustellen. Wir müssen lernen: Das Netz hat die Lebenswelt für viele Menschen ausgeweitet – es hat die Welt tatsächlich kleiner gemacht. Das globale Einkaufserlebnis im Netz tritt in Konkurrenz zum lokalen Einzelhandel, der Live-Stream eines großen Rockkonzerts aus Australien lässt die örtliche Unterhaltungswelt verblassen und die riesige Fülle von Webinaren ist auf vielen Gebieten attraktiver als der Vortrag in der Volkshochschule.
Die Anziehungskraft der virtuellen Orte bedeutet nicht, dass die Gleichaltrigenclique, die Vereine, die Kneipe und die Disco entfallen. Das passt alles ganz gut nebeneinander. Was wir unter „sozialem Umfeld“ verstehen, hat sich besonders für jüngere Menschen verändert. Es findet in den sozialen Netzen in anderer Weise statt, als meine Generation das kannte.
Die reale Nähe und die digitale Nähe müssten sich im Lokaljournalismus zu einer neuen Form von „Nahwelt“ verbinden, die nicht nur räumlich, sondern emotional definiert ist. Jedes Thema ist auch ein lokales Thema, hat die Ihnen vorausgehende Lokaljournalisten-Generation schon vor 25 Jahren in den Seminaren postuliert und dafür vielfältige Modelle entwickelt. „Herunterbrechen auf die lokalen Verhältnisse“ hieß die Devise. Aber geht das noch weit genug, die Spiegelung der großen Fragen unserer Zeit im Lokalen aufzusuchen und darüber hintergründig zu berichten?
Der umgekehrte Weg fällt Lokaljournalisten und -journalistinnen zu selten ein – danach zu fragen, wie lokales Geschehen, das Tun oder Lassen von Bürgern und Bürgerinnen, Politik und Wirtschaft mit den großen Fragen unserer Zeit zusammenhängt.
2. Sie sollten neu nach Ihrer eigene Rolle im lokalen Diskurs fragen
Ich beobachte mit Respekt, mit welchem Einsatz Zeitungsmacher und -macherinnen dafür kämpfen, einen Journalismus zu entwickeln, der den Herausforderungen des Web 2.0 gewachsen ist. Sie versuchen, in einen echten Dialog mit ihren Lesern und Leserinnen einzutreten, Zeitung gemeinsam mit ihnen zu machen, ohne sich anzubiedern. Für einen solchen Ansatz hat die Braunschweiger Zeitung schon 2009 den Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhalten.
Ich finde es spannend, wie stark und kreativ immer mehr Redaktionen das Instrumentarium des Netzes selbst für diesen Dialog und die Bindung der Leserschaft einsetzen. Die Redakteure und Redakteurinnen der Rhein-Zeitung etwa sind an allen Front auf Facebook, Twitter, Youtube und noch mehr Plattformen aktiv. Das findet Anerkennung selbst bei Zeitgenossen, die sich eigentlich von der gedruckten Zeitung verabschiedet hatten.
Nach meiner Überzeugung ist das der Weg. Ich frage mich, ob er wirklich schon konsequent genug beschritten wird. 2012 haben die meisten Journalisten und Journalistinnen das Internet verstanden. Für ihre praktische Arbeit an den lokalen Themen hat das aber meist nur insofern Konsequenzen, als dass eventuell Textvarianten für unterschiedliche Kanäle entstehen müssen. Wenn’s hochkommt, macht man sich Gedanken über Audiovisuelles . Die Zeitungen präsentieren stolz den Hausblogger auf der Website und den „Tweet des Tages“ in der Zeitung. Sobald aber irgendwas im Netz nicht zum bisherigen Geschäftsmodell passt, wird es bejammert, verbannt, verschwiegen. Oder die Verleger denken gleich einmal über eine Klage nach.
Echtzeitjournalismus im Dialog mit den Leserinnen und Lesern ist ein Strang der Diskussion, die zu führen ist, Open Journalism, wie der Guardian das nennt. Das bedeutet: die Lokalmedien arbeiten nicht für eine unbekannte Leserschaft da draußen irgendwo, sondern stützen sich auch auf ihr Wissen, ihre Erkenntnisse, beziehen Leserinnen und Leser sogar in ihren Arbeitsprozess ein. Aus Ihren Reihen wird diese Form des Journalismus gerne verspottet, als irrelevant abgetan. Ich halte das für einen Fehler.
Journalistinnen und Journalisten müssen sich von ihrem hohen Ross herunter begeben: Sie sind es nicht mehr alleine, die heute die Agenda bestimmen. So mancher Ihrer Leserinnen und Leser mischt mit im Konzert der Meinungsbildung. Mancher Blogbeitrag, mancher Tweet entfaltet mehr Wirkung als der Leitartikel in der Lokalzeitung. Gut recherchieren und schreiben können reicht einfach nicht mehr. Wir brauchen Profi-Journalisten und -Journalistinnen, die willens und fähig sind zum Gespräch mit kritischen Leserinnen und Lesern, sie müssen vertreten können, was sie tun. Sie müssen die Kritik und Gedanken ihrer Leserschaft ernst nehmen und aufgreifen, ohne dabei auf eigene Positionen und Anliegen zu verzichten.
Um keine Missverständnis aufkommen zu lassen: Leserbeteiligung in diesem Sinne ist nicht die Zauberformel, sie löst nicht mit einem Schlag alle Probleme – schon deswegen nicht, weil sie immer Minderheiten anspricht und nicht die Masse . Aber es ist eine Facette dessen, was neben der weltoffenen Themenpalette den Lokaljournalismus der Zukunft ausmachen und ihn attraktiv machen kann. Alles beides zusammen reicht aber auch nicht, wenn die Basis nicht stimmt. Und damit sind wir beim dritten und wohl kritischsten Punkt:
3. Sie müssen mit Informationsqualität überzeugen
So wichtig es für die Leserinnen und Leser ist, ihre Themen aus neuer lokaler Perspektive erzählt zu finden und auf Wunsch auch eine Chance zum Dialog und Mitwirken zu bekommen: Von journalistischen Angeboten erwarten sie in erster Linie Information und Orientierung, „keine virtuellen Kaffeekränzchen“, wie Pierre Gehmlich kürzlich in der Zeitschrift „Message“ schrieb. Es sind die alten journalistischen Tugenden: akribische Recherche, solider Hintergrund, saubere Analyse, Transparenz der Quellen. Und wenn dazu noch alles gut verständlich, möglicherweise sogar mit einem Hauch von Unterhaltsamkeit präsentiert ist – dann fasziniert die Zeitung Leserinnen und Leser mit lokalen Geschichten.
Es geht mir nicht darum, dass Lokalzeitungen sich als Konkurrenz zu Blättern wie Zeit, FAZ, Spiegel oder Süddeutsche Zeitung verstehen. Von einem neuen Verständnis des Lokalen her gedacht und im Dialog mit den Leserinnen und Lesern erstanden, könnten die lokalen Themen eine ganz andere Qualität haben. Eben eine spezifisch neue lokaljournalistische Qualität, die zu definieren Ihre Sache ist.
Die Umsetzung allerdings erfordert viel Aufwand – sie kostet Geld, keine Frage. Hier schließt sich der Kreis. Durch ständige Kostensenkung die Profitabilität erhalten zu wollen, ist langfristig eine Milchmädchenrechnung. Was das angeht, sehe ich die derzeitige Entwicklung in den deutschen Zeitungshäusern mit gemischten Gefühlen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Einschnitte auf Kosten von Qualität gehen. Andererseits mag ich nicht in das Klagelied einstimmen, jede strukturelle Anpassung sei des Teufels.
Die Zwei-Drei-Mann-Lokalredaktionen waren selten Vorposten des Qualitäts-Lokaljournalismus. Wenn es heute größere Zeitungshäuser mit überörtlichen oder gar überregionalen Strukturen für Austausch und Kooperation versuchen, muss das ebenso wenig der Anfang vom Ende sein. Warum sollten sich solche Strukturen im Zeitalter des interaktiven Web nicht kreativ nutzen lassen? Wieso kann man nicht dezentrales, auf viele Redaktionen verstreutes Wissens-, Recherche- und schreiberisches Potential themenorientiert für lokale Geschichten nutzbar machen? Warum nicht auch das Wissen der Leser stärker nutzbar machen?
In unserer fleißig kommunizierenden, produzierenden und partizipierenden Gesellschaft ist journalistische Qualität nicht mehr alleine das Werk des einzelnen, an seinem Schreibtisch vor sich hin recherchierenden und schreibenden Journalisten. Dialog, Kooperation und Austausch, so wie sie ihn hier im Lokaljournalistenprogramm ja bereits praktizieren, sollte den redaktionellen Alltag prägen – auch über Redaktionsgrenzen hinaus. Die Zahl der Menschen wächst, die nicht nur über die verschiedenen Kanäle bespielt sein wollen, sondern von Fall zu Fall gerne auch einmal selbst mitspielen.
Nach meiner Meinung sollten die Zeitungen viel konsequenter ihre Geschäftsmodelle aufbrechen, radikaler ihre organisatorischen Strukturen hinterfragen und mutiger ausprobieren, was geht und was nicht. Könnte es nicht beispielsweise sein, dass für den Erfolg im hyperlokalen Raum die heutigen Zeitungsunternehmen viel zu unbewegliche Tanker sind? Andere Branchen machen es vor, wie man in veränderten Märkten mit angepassten Business-Units agieren und erfolgreich sein kann.
Diese könnten möglicherweise sogar neue Erlösmodelle finden – bis hin zum Crowdfunding. Die Plattform Spot.us zeigt in den USA, dass dies auch im Journalismus funktionieren kann: Seit 2008 sammelt sie Monat für Monat durchschnittlich 7000 Dollar Spenden – Geld mit dem lokale Themenvorschläge und Geschichten realisiert werden können.
Entscheidend ist für mich, was bei den Leserinnen und Lesern ankommt. Unsere Demokratie braucht so viel exzellenten, recherchestarken Lokaljournalismus, wie sie bekommen kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihren Beratungen während der nächsten zwei Tage eine große Portion Unverzagtheit und viele kreative Durchbrüche.“