Servicestücke, Umfragen, Aktionen oder Hintergrundtexte? Dank intelligenter Technologien und schier endlos erscheinenden Datensätzen ist es möglich zu erkennen, welche Themen die Leserinnen und Leser beschäftigt. Aber wie gehen Lokalredaktionen mit den Unmengen an Informationen um? Wie lassen sich die Zahlen schnell und einfach auswerten? Und vor allem: Wie lassen sich Leser langfristig an die Zeitung binden? Yannick Dillinger (Schwäbische Zeitung), Barbara Zinecker (Nürnberger Nachrichten) und Jost Lübben (Westfalenpost) stellten ihre Ideen dazu vor.
Yannick Dillinger (Schwäbische Zeitung) – Article Score
16:11 Uhr – die Verbindung steht. Yannick Dillinger, stellvertretender Chefredakteur der Schwäbischen Zeitung (Ravensburg), konnte nicht am Modellseminar teilnehmen, er wählte aber einen für einen Online-Experten angemessenen Weg, doch noch dabei zu sein: Videotelefonie. Dillinger sprach über das Messtool Article Score.
Live dabei in den Redaktionen
Vor zwei Jahren startete er bei der Schwäbischen damit. Seine Idee dahinter: Anstatt den Redakteuren Excel-Tabellen mit Auswertungen der Klick- oder Besucherzahlen zu schicken, die in der Regel nur sporadisch geöffnet werden, möchte er jedes Ressort und jede Redaktion an den Zahlen und Scores teilhaben lassen. Jeder soll live sehen, wie oft die Artikel angeklickt werden, ob die User bis zum Ende lesen, ob sie zu anderen Artikeln weiterklicken oder sogar ein Abo abschließen. Die Artikel werden vom System auf diese Fragen untersucht und durch ein Punktesystem bewertet – so werde der Text eingestuft und könne mit anderen verglichen werden. Auf Dashboards in den Ressorts und Redaktionen sehen die Redakteurinnen und Redakteure die Top-100-Artikel des Tages.
Eine erste Erkenntnis: „Die Stücke, die den Redakteuren am meisten Spaß machen (zum Beispiel lange Artikel oder Hintergrundtexte), die überzeugen auch die User. Auch die regionalen Stücke überzeugen“, sagt Dillinger.
Er erklärte die Ergebnisse des Article Scores, indem er gängige Aussagen widerlegte oder bestätigte:
User lesen auf kleinen Bildschirmen keine langen Texte
Das stimmt nicht, sagt Dillinger. „Wir stellen fest, dass diese Texte sehr sehr gut gelesen werden, wenn sie relevant sind.“ Und: „Die reine Nachricht ist kein Verkaufsargument. Journalismus muss inspirieren, damit Abos verkauft werden (zum Beispiel durch Storytelling, Videos oder lange Formate).“ Es reiche nicht aus, nur der Überbringer von harten Nachrichten zu sein. Exklusivität sei per se kein Verkaufsargument mehr.
Tools sind hilfreich
Ja. Leserinnen und Leser bleiben länger im Artikel, wenn interaktive Karten, ein Zeitstrahl oder Bilder eingefügt werden. „Es muss anders aussehen als einfach nur ein weiterführender Link. Da bleiben die Leute dran.“
User lieben Nützliches
Ja, sagt Dillinger. Vor allem Erklärvideos, also Beiträge, die man immer und immer wieder hinzufügen kann, kommen beim Leser an. Beispiel: „Was bedeutet TTIP? Und heruntergebrochen auf die Region: Was bedeutet das für die Maultaschen oder die Schwarzwälder-Kirsch-Torte?“
Jahrelang nur Sex and Crime – das bringt doch nichts
Stimmt nicht. An diesen Themen seien auch auch Abonnenten interessiert. Vermisstenmeldungen und Polizeinachrichten seien nicht hinter der Paywall – weiterführende Stücke schon. Das ziehe Abonnenten an.
Lange Texte sollten am Wochenende veröffentlicht werden
Stimmt nicht, zumindest nicht für die Schwäbische Zeitung, sagt Dillinger. Jedoch sei es sehr wichtig, die Nutzerfreundlichkeit zu steigern. „Am Wochenende sind viele User mit mobilen Geräten unterwegs. Es ist wichtig, dort die Abo-Bestellprozesse zu verbessern.“
Wichtig ist, Karten oder Videos direkt einzubinden.
Ja. Datenjournalismus sei ein wichtiges Schlagwort für jede Redaktion. Beispiel: Die Parkplatz-Zahl der Stadt Sigmaringen ließe sich an jeden Artikel über Verkehr in der Stadt hängen. „Das muss jedoch direkt eingebunden werden. Dann bleiben die Leser bleiben im Artikel.“
Seit Mai liegen bei der Schwäbischen Zeitung nahezu alle Artikel hinter einer Paywall: Das seien 80 bis 100 Inhalte pro Tag. Lokalsport stand lange Zeit nicht hinter der Paywall. Ein Fehler, wie sich zeigte, denn „jeden Tag haben wir drei, vier Lokalsportstücke in den Top 25 vertreten. Aber: Das müssen erzählte Stücke sein.“
Barbara Zinecker – Audience Development
Ist der Leser immer noch das „unbekannte Wesen“? Nein, sagt Barbara Zinecker von den Nürnberger Nachrichten. Viele Daten seien bereits vorhanden – wie man diese nutzt, das zeigte sie in ihrem Vortrag:
- Tools: „Wir müssen öfter über den Tellerrand schauen.“ Für Zinecker heißt das unter anderem, Tools zu nutzen, mit deren Hilfe Redakteure relevante Themen überblicken können. Crowdtangle sei ein Werkzeug, das nicht nur Posts danach auswertet, wie gut sie gelesen werden („So können wir an Themen dranbleiben – auch noch ein Jahr später“), sondern das auch Social-Media-Kanäle überblickt, „die man sonst mit seinem Privataccount hätte abonnieren müssen, um nichts zu verpassen“, sagt Zinecker. Ein Beispiel: Man müsse Politikern nicht mehr täglich folgen, sondern könne das automatisieren lassen.
Am Newsdesk der Nürnberger Nachrichten würden morgens die Zahlen überprüft: Welche Artikel, welche Themen kamen gut an? Lässt sich das Thema weiterverfolgen? „Das hat uns immer wieder gezeigt, dass es nicht schlecht ist, öfter mal das Bauchgefühl zu hinterfragen.“ - Bedürfnisse der Kunden: Sind die Interessen von Print- und Online-Leser unterschiedlich? Nein, sagt Zinecker.
- Leser lieben Servicestücke und Nutzwertjournalismus.
Jost Lübben – Bewusstseinsprozess vor technischem Prozess
Für Jost Lübben, Chefredakteur der Westfalenpost (Hagen), ist klar: Es ist wichtig, alle verfügbaren Daten zu nutzen – „aber: dahinter steckt nicht nur ein technologischer Prozess, sondern vielmehr ein Bewusstseinsprozess. Wir müssen uns fragen: Warum sind wir eigentlich wichtig? Warum braucht uns jemand? Für das Transportieren von Nachrichten braucht heute niemand eine Zeitung. Das ist seit 30 Jahren klar.“
Es sei wichtig wegzukommen vom täglichen Journalismus, „man sollte sich mit Zielgruppen auseinander, möglichst viele Menschen beteiligen. Wir sollten so viele loyale Nutzer wie möglich erreichen.“
Die Westfalenpost möchte…
Jost Lübben
… mit ihrer Arbeit Teil der Lösung sein und nicht Teil des Problems (konstruktiver Journalismus).
…eine Plattform für die Diskussion aller Zukunftsfragen bieten.
Projekt (2015): „Was braucht Hagen?“ – der Stadtteil-Check
Leser wurden zu den Themen Sauberkeit, Verkehr, Sicherheit etc. befragt.
Aus 500 Rückmeldungen ergaben sich zwölf Themenfelder. Über diese wurde berichtet, sie wurden kommentiert. Außerdem wurden Kommunalpolitiker damit konfrontiert.
„Wichtig ist dabei: Dinge nicht loslassen, sondern immer wieder aufgreifen.“
Projekt #mehralsnur
Gehen oder bleiben? Die Westfalenpost hat junge Leute befragt, was sich in der Stadt ändern muss, damit sie nicht wegziehen?
Projekt „Die andere Sicht“
Lübben lernte den Fotografen, Prof. Peter Bialobrzeski, kennen. Er fotografierte den Spannungsbogen zwischen Alt und Jung und Land und Stadt. Daraus wurde eine große Aktion: Ausstellung, Buch, Zeitungsartikel.
Er und ein Team Studenten fotografierten die Stadt aus ihrer Sicht.
VIDEO: Mehr dazu gibt es demnächst im drehscheibe-Video.